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[Internationaler Club erhält am 4. Juli 2003 „Preis des Auswärtigen Amtes“]

Rechtsmediziner sind es gewohnt, von Toten umgeben zu sein. Aber es kommt auch nicht alle Tage vor, dass Leichen in ihren Vorgärten liegen. Das war während der Langen Nacht der Wissenschaft ausnahmsweise der Fall. Dort simulierten die Rechtsmediziner der Freien Universität vor den Augen des staunenden Publikums selbst einen Mordfall und dessen Aufklärung.

Petrus hatte es gut gemeint: Während der dritten Langen Nacht der Wissenschaft wehte ein angenehmes Windchen, die Temperaturen waren moderat. Und so kamen bereits kurz nach vier Uhr die ersten Besucher nach Dahlem Dorf an den Infostand. Wie fremdartige Käfer fuhren gegen 17 Uhr die Velo-Taxis lautlos vor, die die Wissenshungrigen zu den über vierzig Instituten auf dem weit gestreckten Dahlemer Campus fuhren.

Wer wollte, konnte den Abend ganz meditativ bei jüdischer und christlicher Renaissance-Musik verbringen und sich vom Interdisziplinären Zentrum „Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit“ in das Florenz eines Pico della Mirandola versetzen lassen. Auf dem Rückweg galt es einen Blick in die Romanische Bibliothek zu werfen, wo der Besucher Wissenschaftler bei der Arbeit sehen konnte. „Am frühen Abend kamen vor allem Eltern mit ihren Kindern“, erzählt Wieland Weiß, der für die Freie Universität die Lange Nacht organisierte. So konnten die jungen Forscher beispielsweise in der Chemie ab 16 Uhr an einem Experimentierkurs teilnehmen, der wie das ganze Kinderprogramm bestens besucht war. „Den Lackmus-Test werde ich auf jeden Fall morgen meinen Eltern zeigen“, sagt der elfjährige Fabian begeistert, der auch die „Fußball spielenden Roboter im Institut für Informatik „ziemlich Klasse fand“ und sich im Konrad-Zuse-Zentrum gleich noch das 3-D-Kino anschauen wollte.

Ein hochkarätig besetztes Podium mit dem Prognos-Chef Gustav Greve, dem Vize-Präsidenten der Europäischen Investitionsbank Wolfgang Roth, WZB-Ökonom Prof. Dr. Kai Konrad und Dr. Thomas Guth (Alleinvorstand der Dr. Schmidt Beteiligungs AG) sowie FU-Präsident Prof. Dr. Peter Gaehtgens diskutierten unter Leitung von Johann-Michael Möller (WELT/Morgenpost) darüber, wie viel die Wissenschaft dem Land Berlin wert sein sollte. Eindrücklich warnte Gaehtgens, dass die Wirkung der Sarrazinischen Zahlen-Kaskade fatal sei und der Wissenschaftsstadt Berlin massiv schade.

Die Besucher ließen sich nicht schrecken. Insgesamt lockte die Lange Nacht 13.000 Besucher/innen in das nächtliche Dahlem und damit deutlich mehr als im vergangenen Jahr. Bis nach Mitternacht zählten alle in Berlin beteiligten Häuser mehr als 80.000 Besucher. In Dahlem beteiligten sich 39 Fachrichtungen in 26 Gebäuden. „Diesmal haben sich die Leute auf die vielen Standorte besser verteilt“, erzählt Wieland Weiß, „deshalb mußte niemand warten“.

Totgeschlagene Gummileiche unter Bäumen

Dies zeigte sich auch bei dem Institut für Rechtsmedizin. Draußen hatten die Forscher gemeinsam mit der Berliner Gerichtsmedizin einen Tatort simuliert, mit einer totgeschlagenen Gummileiche unter Bäumen. Magisch zog es die Besucher in den blitzblank geputzten Seziersaal, wo es nicht nur eingelegte Finger und Gehirne zu sehen gab, sondern der medizinische Oberpräparator Michael Hollmann über Stunden alle Fragen des Publikums beantwortete. „Wie halten Sie das nur aus?“, wollte eine Dame von dem Rechtsmediziner wissen. „Ich schalte abends völlig ab“, erzählte Hollmann, „das bringt die lange Berufspraxis so mit sich“. Natürlich könne er sich aber noch an seinen ersten Mordfall erinnern. „In Berlin kommen zehn Prozent der Toten in die Gerichtsmedizin“, verriet Holmann dem überraschten Publikum, seziert würden hauptsächlich die 75- bis 103-Jährigen.

Weniger gruselig ging es bei den Prähistorischen Altertumskundlern zu, die hinter dem Haus eine archäologische Fundstelle simuliert hatten, um Grabungs- und Dokumentationstechniken zu erklären. Besucher konnten mit der Spitzkelle, dem Spaten oder dem Pinsel Scherben aus der Bronzezeit freilegen. Unter dem Dach faszinierte die Archäozoologin Cornelia Becker, die aus bearbeiteten Tierknochen der Bronzezeit schloss, dass die Menschen damals schon Schlittschuh liefen.

Wer wissen wollte, wie sich die Biene von der befruchteten Eizelle über die Puppe und Larve bis zur ausgewachsenen Biene entwickelt, konnte sich im Institut für Biologie die beleuchteten Vergrößerungsgläser anschauen. Kaum einen Platz vor den Rasterelektronenmikroskopen gab es bei den Botanikern, die zum Glück mit Beamer-Projektion Pflanzenhaare, -stacheln und -widerhaken an die Wand projizierten. „Wenn Du eine Ziege wärest, würdest Du dieses Blatt fressen?“, fragte ein Vater seinen Sohn, der sich gerade ein besonders kratzbürstiges Blatt unter dem Mikroskop betrachtete. Die Antwort kam prompt und langzogen: „Neeeiin“.

Im Henry-Ford-Bau empfingen Forscher Interessierte in einer Jurte, wo sich die Besucher auf bunt bemalten Holzstühlen über Zentralasien, seine Landschaft und Bewohner informieren konnten. Im EEG-Labor in der Silberlaube wählte eine fachgerecht von den Neuropsychologen verkabelte Besucherin unbeobachtet vom Publikum einen Gegenstand von vieren aus. Eindeutig ließ sich an den Gehirnströmen erkennen, dass sich die junge Frau für den Hammer entschieden hatte.

Politische Demonstration im Finanzgericht

In das Berliner Finanzgericht fühlten sich Besucher im Fachbereich Rechtswissenschaft versetzt, wo leicht erhöht vom Publikum in schwarzer Robe die Richter Platz genommen hatten. Wie im richtigen Leben übernahm der Präsident des Finanzgerichts, Prof. Dr. Herbert Bültmann, den Vorsitz. Als eine Richterin vom Anwalt wissen wollte, ob die Frau des Beklagten ein eigenes Auto habe, wurde sie vom Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaft, Prof. Dr. Philip Kunig, unterbrochen. „Ich mache jetzt etwas, was ich vor Gericht nie tun würde“, sagte Kunig launig. Wie Kunig unterbrachen die Wissenschaftler aller Einrichtungen um 21 Uhr kurz ihre Vorführungen, um gegen die Senatspolitik zu demonstrieren. Viele Bürger hatten sich zuvor schon am Pressestand Dahlem Dorf in die Unterschriften-Liste eingetragen.

„Es gehört zu dem besonderen Reiz von Dahlem, dass so viele kleine Institute ihre Türen für Besucher geöffnet hatten“, sagt Ellen Fröhlich, Abteilungsleiterin Forschung. Ob bei „Vahari mit dem Schweinskopf“ oder einer „Vorführung des Sanskrit-Readers“ – die Indologen schleppten Stühle, damit alle Besucher sitzen konnten.

Das richtige Nachtfieber packte die Wissenshungrigen, als es stockdunkel wurde. Ob sich die Besucher um 23.15 Uhr im Institut für Chemie die Chemie des Espressos erklären, sich von Lutz von Werder im Institut für Philosophie beraten ließen oder gemeinsam mit Prüfern der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen diskutierten: Der Wissensdurst ließ nicht nach und mündete vielfach im fröhlichen Feiern, wie es sich für die in Deutschland selten fröhliche Wissenschaft eigentlich gehört.

Dr. Felicitas von Aretin

 

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