Tilman Riemenschneiders Lindenholzfigur des Apostels Matthias (Höhe: 107,5 cm). Auf dem Mantelsaum steht die Gebetsinschrift, die den Linguisten Fritz auf die entscheidende Fährte lockte und ihm schließlich dazu verhalf, den Geburtsort des Künstlers zu verifizieren.
Foto: Bode-Museum Berlin
Matthias Fritz ist Indogermanist, kein Kunsthistoriker. Dennoch interessiert er sich für einen der bedeutendsten spätgotischen Bildhauer Deutschlands: Tilman Riemenschneider (um 1460 1531). Bislang konnte die Frage um den Geburtsort des Künstlers nicht zweifelsfrei geklärt werden. Bis Fritz den entscheidenden Hinweis fand. Der Forschung war seit längerer Zeit bekannt, dass Riemenschneider aus dem Harz kam, doch belegt wurde diese Vermutung nie. Die Annahme, dass Riemenschneiders Vater 1465 von Heiligenstadt im Eichsfeld nach Osterode im Harz gezogen war, hatte die Kunsthistoriker veranlasst, im südlich des Harz gelegenen Heiligenstadt den Geburtsort des Bildhauers zu vermuten. Trotzdem wird in manchen Handbüchern noch heute Osterode als Geburtsort angegeben.
In Würzburg geboren, wurde Fritz Interesse für Riemenschneider, der hauptsächlich in Würzburg, Nürnberg und Bamberg arbeitete, schon früh geweckt. So war die Ausstellung Riemenschneider auf der Museumsinsel im Berliner Bode-Museum 1998/99 für ihn natürlich ein Muss. Eher zufällig wurde Fritz während seines Ausstellungsbesuchs auf eine Lindenholzfigur des Apostels Matthias (um 1504/05) aufmerksam: An Matthias Mantelsaum befindet sich eine Gebetsinschrift, die sich an die Gottesmutter Maria und den Apostel Matthias richtet.
Da Inschriften bei Riemenschneider selten vorkommen, schenkte Fritz dieser Skulptur besonderes Interesse. Beim Entziffern der Gebetsfragmente fiel ihm eine phonologische Besonderheit auf: das Auftreten zweier bestimmter Dialektmerkmale, die, obgleich sie beide zeitverschoben vorkamen, nun innerhalb eines einzigen Textes verwandt wurden. Diese ungewöhnliche Kombination weckte die Neugier des Linguisten. Welche Region konnte es sein, in der diese beiden Dialekte gleichzeitig gesprochen wurden? Mithilfe dialektologischer Literatur, wie zum Beispiel Dialektatlanten, begab sich Fritz auf die Suche. Das Rätsel musste gelöst werden.
Der Sprachwissenschaftler fand heraus, dass das eine Dialektmerkmal der niederdeutschen Lautung entspricht, während das andere der oberdeutschen Lautung gleicht. Wie konnte es sein, dass sich innerhalb einer Region zwei Dialekte überschnitten? War dies ein Indiz dafür, dass es sich nur um ein Grenzgebiet zwischen zwei verschiedenen deutschen Regionen handeln konnte? Dies als Anhaltspunkt genommen, konzentrierte sich Fritz bei seiner Spurensuche auf das Nordthüringische, da diese mitteldeutsche Sprachregion als Gebiet an der Grenze zum Niederdeutschen zahlreiche niederdeutsche Substrate erkennen lässt. Aufgrund weiterer Mundarten, die in der Mantelsauminschrift erscheinen, war innerhalb dieses Gebiets eine weitere Eingrenzung möglich: die zum Nordwestthüringischen. Hierbei handelt es sich um eine Form des Obereichsfeldischen, die auch in Heiligenstadt im Eichsfeld gesprochen wird, dem bisher nur vermuteten Geburtsort Tilman Riemenschneiders.
Fritz allgemeinem Interesse für Tilman Riemenschneider, vor allem aber seinem Gespür für linguistische Auffälligkeiten, ist es zu verdanken, dass nun endlich das Rätsel um den Geburtsort des Künstlers gelöst und die bislang geltende Vermutung, dass Riemenschneider in Heiligenstadt/Eichsfeld geboren wurde, sprachwissenschaftlich belegt werden konnte.
Ilka Seer
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