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Querstrich

Ferdinand Hucho - Geist aus der Zelle

Hucho and the Brain:
Verstand und Gefühl in 900 Gramm Materie
Foto: Kundel

Von Susanne Weiss

Die Tür zum Arbeitszimmer steht immer offen – aus Prinzip. Ferdinand Hucho ist ein Mann ohne Geheimnisse. Gelegentlich kommt jemand ohne zu fragen herein. Vielleicht auf der Suche nach dem Programm für den anstehenden Museumsbesuch oder das nächste Basketballspiel. Einmal im Monat verlässt die Arbeitsgruppe Hucho das Institut für Biochemie der FU in Richtung Kunst, Kultur oder Eishockey. Sphärenwechsel anderer Art – die Beteiligung an Grundsatzdebatten – in den Naturwissenschaften nicht sehr weit verbreitet – überlässt man gern dem Chef: "Der 'Alte' philosophiert", heißt es dann.

Grenzüberschreitend war Mitte der 70-er Jahre auch die Einführung des Studiengangs Biochemie. Der Gegenstand: die Erforschung der Chemie und Physik der belebten Materie. Die klassischen Herkunftsfächer waren betrübt, und in der Folge hatten auch die Senatsjuristen ihre Bedenken – ein üblicher Vorgang bei Neugründungen dieser Art. Hucho, seit 1979 an der FU, engagierte sich zusammen mit Eberhard Riedel, dem Initiator des Studiengangs, und Anderen für die Implementierung und die Genehmigung durch die Senatsverwaltung, später dann vor allem für Durchführung und Weiterentwicklung des neuen Fachs. Hucho erzählt vom eigenen – streng reglementierten – Chemiestudium. "Es war Auswendiglernen". Heute ist man in einer anderen Spur: Die Fragen an die Forschung, Fragen nach der Entstehung von Wissen und von Erkenntnis rücken in den Vordergrund. Im Internet-Zeitalter ist die Beschaffung von Fakten kein Problem, wichtiger ist die kompetente Navigation durch ein Wissen, das sich alle vier Jahre verdoppelt. Für den Senatsjuristen ein schlüssiges Argument bei der Genehmigung des neuen Studiengangs. Im Hauptstudium Biochemie gibt es keinen festgelegten Fächerkanon mehr. "So hätte ich gern selbst studiert", sagt einer, der als Chemiestudent in die Cézanne-Vorlesung ging – eine Horizonterweiterung mit Langzeitwirkung.

Auf der Suche nach den Konditionen des Menschseins schien eine Zeitlang alles so einfach zu sein: Ein Gen – eine Krankheit, ein Gen – eine Eigenschaft, ein Gen – ein Talent. Der monogenetische Mythos ist verbreitet, seit man von der Existenz solcher Art Krankheiten, wie beispielsweise der Sichelzellenanämie oder der Bluterkrankheit, weiß. Doch wie weit käme man mit 100.000 Genen, wenn da sonst nichts wäre?
"Es sind die 1015 Synapsen, die den Menschen machen – das ist der Geist", sagt Hucho. Auf der Zellebene will der Biochemiker ihm beikommen. Jede der 100 Milliarden Gehirnzellen ist mit 10.000 anderen über Synapsen, Schaltstellen an der Zellperipherie, verbunden. Die 900 Gramm Materie, aus denen das menschliche Gehirn besteht, verändern sich ständig. Das neuronale Netz entsteht und mit ihm Intelligenz und Gefühle. Chemie und Physik des Denkens und der Gefühle? Der genetischen Determination gerade entronnen, und nun ist alles Chemie? "Wir kapitulieren vor der schieren Komplexität", tröstet Hucho, "sie hat eine Dimension, die nicht mehr beschreibbar ist." Im unerklärbaren Rest bleibt Platz für Unwägbares, für Geheimnis, für Gretchenfragen aller Art.

Dennoch: "Verstehen heißt, der Mystik entreißen." Und Verstehen und Wissen sind ein probates Mittel gegen Hysterie, wie sie derzeit die Gendebatte begleitet. Der Genkessel kocht, die Lifescience-Industrie macht Druck. Man dringt auf Deregulierung und winkt mit Gentherapie.

Doch wie kommt das Wissen in die Welt?
"Wir müssen weg vom privilegierten Herrschaftswissen, weg von der Interpretation der Fakten, bevor sie der Öffentlichkeit 'zugemutet' werden."

Hucho, Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, hat dort das Projekt "Gentechnologiebericht" installiert. In zweijährigem Rhythmus erscheint ein Bericht, der Fakten zu Grundlagenforschung, Genomsequenzierungen oder Anwendung der Gentechnik in verschiedenen Bereichen vorlegt. Orientieren will man sich an Fragen, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Paternalistische Aufklärung von "oben" nach "unten" ist out – nachdem die Wissenschaft das Monopol der Beurteilungskompetenz verloren hat, ohnehin.

Dennoch macht sich Ferdinand Hucho, auch Journalist ("Außer über Musik habe ich schon über alles geschrieben"), Redakteur (Biospektrum) und Herausgeber (European Journal of Biochemistry) Sorgen darüber, ob die (Natur)Wissenschaften ein adäquates Publikum haben. Einmal gilt es, eine Komplexitätslücke zu überwinden, glaubt er. Vielleicht ist es einfacher, über Cézanne zu reden als über Zellmembranen. Andererseits weiß er, dass "wir von einem Kredit zehren, den wir längst verspielt haben". Der groß angelegte Betrug von Teilen der Wissenschaft in Diensten totalitärer Regime in diesem Jahrhundert macht Vertrauen zu einem teuren Gut. Heute verschwimmen vor allem in den life sciences die Grenzen zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung – die Frage nach der Freiheit der Forschung wird wieder laut. Und die Wissenschaftler selbst suchen nicht unbedingt den Weg aus dem Elfenbeinturm hinaus in die Welt – schließlich lebt es sich dort bequem. Die Schöpfer tiefgreifender Veränderungen stehen für Fragen derjenigen, deren Alltag von diesen Schöpfungen durchdrungen ist, zu selten zur Verfügung.

Journalistische Weiterbildung für Wissenschaftler könnte helfen, weiß Hucho. Auch eine andere Wissenschaftskultur tut not: "Wenn so ein ,gene-food' Schäden verursacht, muss es gesagt werden – auch wenn ein Kollege sein Geld damit verdient." Ähnliches gilt auch für den Gentechnologiebericht: "Wo immer ein Konsens nicht erkennbar ist, soll der Dissens dokumentiert werden", heißt es dort. "Ich liebe meine Wissenschaft", beteuert Hucho. "Das heißt nicht, dass ich nicht kritisch und skeptisch sein kann."

Als Ort für Horizonterweiterungen und Debatten wünscht sich Ferdinand Hucho, der Biochemiker, der vom ersten Zeilenhonorar beim Konstanzer "Südkurier" sein erstes Bild kaufte, die Universität. Nicht als "Agglomerat von Fachhochschulen", sondern als "universitas". Vielleicht gehen dort die Kunsthistoriker in die Biochemie-Vorlesung, um herauszufinden, was in ihrem Kopf passiert, wenn sie ein Bild von Cézanne betrachten.

 
 
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