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Von Felicitas von Aretin

Am 19. Juli 1783 wird in der Herrschaft Harrachstall ein dreißigjähriger Bauernknecht als Vagabund aufgegriffen. Er gesteht, "daß er seinem dienstherrn Zacharias Stumvoll Herrschaft Weinberger Unterthan zu Kerschbaum heimlich entwichen, und dessen Tochter Maria mit welcher er geschwistert Kinder zu sein vorgibt, impragnirt habe". Quellen für diesen Inzestfall aus dem 18. Jahrhundert sind die Akten des Landgerichtes der Herrschaft Freistadt, die die österreichische Forscherin Susanne Hehenberger ausgewertet hat. Bislang hat die Geschichts- und Literaturwissenschaft den Inzest nur am Rande gestreift. Ein von Prof. Dr. Claudia Ulbrich organisierter Workshop wollte diese Lücke schließen, schon um die interdisziplinäre Koordination von InzestforscherInnen an der FU zu bündeln. Für HistorikerInnen hat Inzest ein breites Bedeutungsspektrum. Es reicht von Heiratsverboten in einer weitläufigen Verwandtschaft bis hin zu sexueller Gewalt in der Familie. Der Inzest hat die Gemüter in allen Jahrhunderten bewegt: Sei es in der Antike, als Ödipus seinen Vater tötete und unwissentlich mit seiner Mutter schlief, sei es im Alten Testament, wo Lots Töchter die Trunkenheit des Vaters zum Beischlaf nutzten.

Meist– so weist die FU-Germanistin Jutta Eming in ihrer Forschungsarbeit über die "Inzestthematik in der fiktionalen Literatur des Spätmittelalters" nach – umgibt den Inzest in der Literatur der Reiz des Besonderen. So auch in der im Spätmittelalter äußerst beliebten Reise- und Liebesliteratur, die das Inzestthema wie in der "Appolonius-Erzählung" oder in "Mai und Beaflor" mit großem Erfolg variiert. Im Mittelpunkt der Erzählungen steht ein adliges Paar, das aus unterschiedlichen Ländern stammt und erst nach einigem Herz- und Seelenschmerz sich in die Arme schließen kann. Meist muss die Königstochter sich gegen Annäherungen ihres Vaters wehren, flieht in die Fremde, um dort mit einem Edelmann glücklich zu werden. Dies spricht für die These Emings, wonach Inzest als Konstruktion zu verstehen sei, in der die libidinöse Besetzung innerfamilärer Beziehungen außerfamiliäre Liebesbeziehungen unmöglich macht.

In frühneuzeitlichen Gerichtsakten kommt Inzest in ganz anderen Kontexten in den Blick. Zum Gerichtsprozess kommt es, wenn das 18- bis 20-jährige Mädchen schwanger wird. Erst dann tritt zu Tage, was das Haus und Dorf im Sinne einer conspiracy of silence mit verdeckt: Der Inzest zwischen Stiefvater und Tochter, Bruder und Schwester, Cousin und Cousine kann nicht länger verschwiegen werden. Oft, so weist die Cambridger Historikerin Ulinka Rublack in 170 Fällen aus dem protestantischen Württemberg nach, geht es um das Ausüben männlicher Macht und Herrschaft: Der Stief- oder der Schwiegervater bringt das Mädchen "zum Willen", das heißt, er schläft mit ihr und nützt damit ein Abhängigkeitsverhältnis aus. Vor Gericht hat das schwangere Mädchen wenig Chancen. Umstritten ist in der Inzestforschung, inwieweit Inzest grundsätzlich mit Macht- und Amtsmissbrauch gekoppelt ist. Für Rublack, die einen psychosozialen Forschungsansatz vertritt, zeigen sich hier eindeutig Hinweise für eine Traumatisierung der betroffenen Frauen. Gerade in katholischen Gebieten blieb das kanonische Recht noch lange gültig, das Heiraten auch zwischen entfernten Verwandten und Verschwägerten verbot.

Die FU-Historikerin Claudia Jarzebowski weist einen interessanten Wandel in der Behandlung des Inzestes durch preußische Gerichte im 18. Jahrhundert nach. Als Friedrich II. das verwandtschaftsbezogene Ehe- und Sexualverbot auf die Kernfamilie begrenzt, fällt das zuvor häufig verwendete Argument der Dispensabilität fort: Die Richter interessieren sich nunmehr für den Ablauf der sexuellen Handlung. Und wieder zieht die Frau den Kürzeren: Ein Vater, der seine neunjährige Tochter Rosina missbraucht, kommt mit sechs Jahren Arbeitshaus davon. Da der Vater auf Grund Rosinas Alters keinen "würcklichen Incestus hatte haben können", und die Tochter nach einem Gutachten der Hebamme keine "körperlichen Schäden" davon getragen hatte, fällt die Strafe milde aus. Die Sichtweise Rosinas wird von den Richtern unbeachtet gelassen. Dafür fühlt sich der Staat in die Pflicht genommen, der im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 den Umgang zwischen Familienmitgliedern stärker reglementiert und zu seiner Angelegenheit macht. Das gemeinsame Nächtigen von Geschwistern und Eltern in einem Bett wird verboten. Die im 18. Jahrhundert einsetzende Strafrechtsreformdebatte sieht den Inzest als ein Begehren, das auf gegenseitiger sexueller Anziehung beruht – und geht damit an der Realität von Rosina weit vorbei.

Die Rechte des Kindes rücken erst im durch die Psychoanalyse geprägten 19. und 20. Jahrhundert in den Vordergrund. Mithilfe medizinischer Untersuchungen versuchten Wissenschaftler im 19. Jahrhundert nachzuweisen, dass Kinder aus Inzestverbindungen häufiger degeneriert seien als andere. Häufiger Inzest wird als Verfall der Gesellschaft gewertet und von den Richtern als Unterschichtenphänomen gegeißelt, führte die FU-Politologin Brigitte Kerchner in ihrem Einleitungsreferat aus. Im Nationalsozialismus wurde das Delikt als "Rassenschande" ideologisch instrumentalisiert. Hier zeigt sich der Unterschied zu den Stilisierungen der Geschwisterliebe, aber auch zu anderen Auffassungen zum Inzest in der frühen Neuzeit.

Foto: AKG

 
 
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