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FU-Nachrichten 6-2000
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von Catarina Pietschmann

FU-Biologen erforschen, wie Sinnesreize auf zellulärer Ebene verarbeitet und in Muskelaktivität umgesetzt werden

Afrikanische Wanderheuschrecke

Eigentlich sind sie die Herrscher unseres Planeten. Denn mit circa 860.000 Arten machen die Insekten etwa drei Viertel aller bekannten Tierspezies aus. Sie sind nicht sehr beliebt, obwohl es neben kleinen Monstern – wie Mücken, Wanzen und Küchenschaben – auch ganz zauberhafte Exemplare gibt. Schillernde Libellen beispielsweise, bis zu 30 cm lange farbenprächtige Nachtfalter oder quietschgrüne Grashüpfer.

Insekten gehören zu den Arthropoden – zu den "Gliederfüßern" also – und zeichnen sich als solche durch gegliederte Extremitäten und die Körpersegmentierung aus. Das Geheimnis ihres evolutionären Erfolges ist ihre geradezu geniale Anpassungsfähigkeit – kaum eine ökologische Nische, die sie nicht für sich erobert hätten. Die Vielfalt ihrer teils bizarren Gestalt verdanken sie ihrem Außenskelett – der Cuticula. Sie besteht aus Chitin sowie dem Protein Sklerotin und hat bemerkenswerte Eigenschaften: Leicht und dennoch fest, strapazierfähig und äußerst formbar, schützt sie nach außen wie eine Ritterrüstung, während sie nach innen Muskeln und Gewebe stützt.

Brustganglion mit angefärbten neuromodulatorischen Neuronen

Aber das wirklich Faszinierende ist für Prof. Hans-Joachim Pflüger das reichhaltige Bewegungsrepertoire der "Krabbeltiere". Denn da haben sie einiges mehr zu bieten als wir Menschen. Mit ihren sechs Beinen gehen, laufen, hüpfen, rennen, klettern und schwimmen sie – und fliegen können sie meist auch noch. Wenn es darum geht, sich auf Ästen und Blättern zu bewegen, mühelos an Felsen hochzuklettern, aus dem Stand einen mächtigen Satz zu machen oder im Flug kunstvolle Pirouetten zu drehen, macht ihnen keiner was vor. Jede Bewegung wird in vielfältiger Weise durch Sinnesorgane rückgekoppelt und kontrolliert. Am Institut für Biologie/Neuroanatomie werden diese Regelungsprozesse untersucht, um zu klären, wie das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln auf zellulärer Ebene funktioniert.

Die Modellorganismen der Arbeitsgruppe Pflüger tragen so melodische Namen wie Locusta migratoria oder Schistocerca gregaria. Aber es sind keine schönen bunten Schmetterlinge, sondern Wanderheuschrecken – als 'biblische Plage' verschrien und gefürchtet. Warum gerade Heuschrecken? "Das liegt einfach daran, dass sie mit die größten Insekten sind", erklärt Pflüger. "Um die Bewegungsmuster der Tiere verstehen zu können, untersuchen wir den gesamten Prozess vom Eingang des sensorischen Reizes über die Informationsverarbeitung bis hin zum motorischen Effekt – der Muskelaktivität. Dazu müssen einzelne Nervenzellen identifiziert werden. Das ist bei kleineren Insekten wie Fliegen nur erschwert möglich."

Aufbau und Funktionsweise der Nervensysteme von Wirbeltieren und Insekten sind im Prinzip recht ähnlich – nur die Organisationsform ist anders. Während Wirbeltiere, ebenso wie der Mensch, ein Gehirn und Rückenmark besitzen, haben Insekten ein dezentraleres 'Strickleiternervensystem'. Jedem Körpersegment sind mehrere Schaltzentralen (Ganglienpaare) zugeordnet, die in Längsrichtung durch Verstrebungen (Konnektive) miteinander verbunden sind.

Neurone – die eigentlichen Nervenzellen – fungieren als Nachrichtenübermittler und -verrechner: Sie empfangen, registrieren und vergleichen Informationen und geben Befehle weiter. Im Wesentlichen bestehen sie aus dem Zellkörper (Soma) mit seinen Fortsätzen (Dendriten) und einem langen Axon, das die empfangenen Signale vom Zellkörper weg an andere Nerven- oder Muskelzellen weiterleitet. Wie lang so ein Axon sein kann, erfährt manch einer schmerzhaft am Ischiasnerv. Ist der Nerv im unteren Wirbelsäulenbereich eingeklemmt, zieht der Schmerz über das Axon bis in den Fuß hinunter – eine Distanz von mehr als einem Meter.

Je nach Funktion unterscheidet man sensorische (informationsübertragende) Neurone, Motoneurone – sie übertragen die Nervenimpulse auf Muskelzellen – und Interneurone. Letztere dienen als Schnittstelle zwischen sensorischen und Motoneuronen.

In der AG Pflüger wird eine ganz besondere Klasse von Zellen erforscht – sogenannte neuromodulatorische Neurone mit zwei Axonen. Sie können die Effizienz der neuromuskulären Prozesse beeinflussen und den Stoffwechsel von Muskeln verändern. Spezialisiert haben sich die Wissenschaftler vor allem auf Neurone, die bei motorischen Prozessen Octopamin freisetzen – ein biogenes Amin, das in Struktur und Funktion dem Noradrenalin beim Menschen entspricht. Je häufiger und länger ein Insekt einen Muskel benutzt, um so energiesparender arbeitet er. Wie das funktioniert und wann die dafür verantwortlichen Neurone aktiv werden, will man herausfinden.

"Außerdem interessieren uns die Mechanismen der Entwicklungsvorgänge von Nervensystemen. Auch hier sind Insekten sehr gute Modellorganismen. Ihr sensorisches System organisiert sich im Laufe ihrer Entwicklung selbst – aufgrund gesammelter Erfahrung – und passt sich damit den individuellen Bedürfnissen an", erläutert Pflüger. "Wir haben Methoden entwickelt, die es uns ermöglichen, die Aktivität einzelner identifizierbarer Nervenzellen zu beobachten und zu interpretieren – und zwar im natürlichen Bewegungsmuster der Tiere".

Währendessen hat Daniel Münch schon mal seine Locusta aus dem Kühlschrank geholt, wo sie die Nacht auf dem Rücken liegend – eingebettet in grüne Knete – verbracht hat. Einige Sinnesborsten (unterhalb des Kopfes) wurden bereits am Tag zuvor rot eingefärbt. Sie reagieren empfindlich auf Luftströmungen und dienen den Heuschrecken zur Flugsteuerung. Frisch geschlüpfte Tiere haben 20 solcher Härchen (Rezeptoren), ausgewachsene etwa 250. Ziel dieses Projektes ist es herauszufinden, wie sich die Struktur von Rezeptor und nachgeschaltetem Interneuron im Laufe der Entwicklung der Heuschrecken verändert.

Etwa sechs Wochen dauert es, bis die frisch geschlüpften Hüpfer erwachsen sind. Anders als bei den meisten Insekten erfahren sie keine Metamorphose, sondern entwickeln sich kontinuierlich. Dabei durchlaufen sie fünf Larvenstadien, in denen sie sich jeweils vollständig häuten. Als Larven (Nymphen) ähneln sie bereits dem erwachsenen Tier, besitzen aber noch keine Flügel.

Glücklicherweise haben Arthropoden kein Schmerzempfinden, und so bleibt der Hüpfer auch relativ gelassen, als Daniel ihm unter dem Mikroskop mit einem winzigen Skalpell den Chitinpanzer öffnet und einen Teil des Nervensystems freilegt. In der wasserklaren Hämolymphe, der blutähnlichen Körperflüssigkeit der Insekten, liegt alles übersichtlich angeordnet. Es gilt nun das Interneuron aufzufinden, durch welches der Sinnesreiz im Ganglion verarbeitet wird. Nervenimpulse sind bekanntlich elektrische Signale und als solche messbar. Daniel schaltet das Oszilloskop ein und sticht vorsichtig mit einer haarfeinen Elektrode in das Konnektiv, in dem das Interneuron liegt. Dabei pustet er ganz leicht über das Tier. Die Sinneszellen unter den Härchen leiten den Reiz weiter und eine verschlüsselte Welle der Erregung läuft als Salve von Aktionspotenzialen das Axon entlang und erreicht das Interneuron. Als er die richtige Stelle trifft, wird ein Aktionspotential im Interneuron intrazellulär abgeleitet – sichtbar auf dem Oszilloskop und auch als akustisches Signal hörbar. Das Interneuron ist identifiziert. Der Rest ist Routine. Über die Elektrode wird eine Färbelösung in die Nervenzelle eingeträufelt, so dass später im Gewebepräparat das grell fluoriszierende Axon erkennbar sein wird.

Im Nachbarlabor macht derweil Tim Mentel seine Heuschrecke startklar. Nachdem er ihr sechs hauchdünne Hakenelektroden in die Beinnerven implantiert hat, sieht sie aus wie eine Marionette. Einen Meter lang müssen die 0.06 mm dünnen Stahldrähte sein, damit das Tier genügend Bewegungsfreiheit hat. Tim setzt die Heuschrecke in die "Laufarena", einen Faradayschen Käfig, und sie beginnt – völlig unbeeindruckt von der Verkabelung – ihren Rundgang. Bei diesem Versuch werden die Aktionspotentiale extrazellulär an den Axonen der Motoneurone und neuromodulatorischen Neurone abgegriffen. Der gesamte Bewegungszyklus, die Stemm- und Schwungphasen der Insektenbeine werden registriert. Die Daten werden direkt in einen Computer eingespeist und anschließend zusammen mit Informatikern ausgewertet. Aus der Art und Abfolge der aufgezeichneten Signale lassen sich Schlussfolgerungen über die Erregung der jeweiligen Beinmuskulatur ziehen – und damit auf die Funktionsweise der beteiligten modulatorischen Neurone.

"Wir betreiben hier solide Grundlagenforschung", sagt Pflüger über seine Forschungen. "Die Entwicklung immer feinerer Methoden erlaubt uns einen immer tieferen Einblick in die Mechanismen des Nervensystems. Die Funktionsweise und die Eigenschaften aller Neurone einmal bis hinunter auf die molekulare Ebene zu verstehen – das ist mein Ziel." Interesse an solchen Arbeiten haben indes Ingenieure. Denn die neue Generation geländegängiger Roboter orientiert sich am Vorbild der Natur, an vielbeinigen Tieren – den Arthropoden.

Bilder: Pflüger

 
 
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