Heilende Höhen: Mit Klettern Ängste überwinden

Heilende Höhen: Mit Klettern Ängste überwinden

Klettern macht Spaß und fördert das Selbstbewusstsein. Kein Wunder also, dass Angstpatienten auf die alternative Therapie gut anspringen. Fachkreise äußern jedoch Skepsis. Was steckt nun hinter dem therapeutischen Klettern: Hokospokus oder ein Erfolgskonzept?

Von Kim Mensing

Von Weitem sah die glatte Holzwand noch einladend aus, gesäumt mit Griffen in allen Farben, Formen und Größen. Doch bei zehn Metern in der Luft und nach einem Blick zum Boden setzt seine Nervosität ein. Der nächste Griff liegt nicht nah genug, um einfach den Arm ausstrecken zu können. Die Hände sind schon feucht, die Beine zittern – er fühlt sich schwach. Beim nächsten Schritt könnte er den Griff verpassen und fallen.

Die große Unbekannte

In dieser Situation Angst zu haben, ist vollkommen normal, sogar lebensnotwendig: Schwindelnde Höhen bergen ein Gefahrenpotenzial. Doch außerhalb von Höhen finden sich viele Ängste, die für den gesunden Menschen nicht nachvollziehbar sind. Einer 2011 von der TU Dresden groß angelegten Studie nach leidet jeder siebte Europäer unter krankhaften Ängsten, die den Alltag prägen und stark beeinträchtigen. Die Diagnose Angststörung bedeutet in den meisten Fällen nicht nur, Medikamente zu nehmen. Diese können Symptome lindern, aber die Krankheit nicht heilen. Erst die Verhaltenstherapie zeigt den Patienten neue Wege, beispielsweise über die Konfrontation mit angstauslösenden Situationen. Nun soll das Klettern nicht nur Höhenängste, sondern sogar diverse Angststörungen therapieren können.

Andreas Ströhle ist einer der führenden deutschen Wissenschaftler in der Behandlung von Panikstörungen und leitet die Angstambulanz der Charité in Berlin-Mitte. Zusammen mit seinen Mitarbeitern entwickelte er eine verhaltensherapeutische Gruppentherapie, die sich aus mehreren Behandlungsarten zusammensetzt. Ströhle und sein Team stützen die Therapien in der Spezialambulanz der Charité wissenschaftlich – im Besonderen erforschen sie den Einfluss von Sport auf Angststörungen. Zu der Klettertherapie kann der renommierte Forscher allerdings wenig sagen: „Ich habe damit keine Erfahrungen und mir sind auch keine qualitativ hochwertigen Studien zum Thema bekannt“. Fehlende wissenschaftliche Anerkennung – macht das die Klettertherapie bereits unglaubwürdig?

Probieren über Studieren

Die 23-jährige Lisa* aus Würzburg ist sich sicher, dass regelmäßiges Klettern Ängste reduzieren kann. Die Studentin geht mehrmals wöchentlich mit ihren Freunden in die Kletterhalle. Angst ist dort Alltag: der Moment, in dem man kurz vor der Erschöpfung steht und denkt, man werde gleich fallen – oder das Dilemma, dass der nächste Griff einen Sprung erfordert. Mit der Zeit lerne man aber, nicht nur dem Kletterpartner, sondern auch sich selbst zu vertrauen – und wagt den Sprung. Oben angekommen, überschattet das Glücksgefühl alle vorherigen Mühen und Ängste. Lisa litt zwar nie unter krankhafter Angst, sieht in dem Sport aber einen Mutmacher: „Ich bin viel selbstbewusster, seitdem ich regelmäßig Sport mache“. Durch die Überwindung von Ängsten kann Klettern auch als Therapie von Angststörungen dienen, meint Lisa.

Ärzte der Schön-Klinik Roseneck am Chiemsee bestätigen Lisa’s These. In einem Artikel der Fortbildungszeitschrift DNP schreiben sie, die Stärkung des Selbstbewusstseins sei zentraler Bestandteil einer Angsttherapie. Die Fähigkeit, Probleme zu lösen, schätzten Angstpatienten immer zu niedrig ein. Die Klettertherapie dagegen bringe ihnen bei, selbstständig Lösungen zu finden. Deshalb hat auch die Schön-Klinik, die in der Therapie psychischer Erkrankungen bereits international bekannt ist, ihr Behandlungsangebot um das therapeutische Kletttern erweitert. Soweit gibt es allerdings nur eine Handvoll Einrichtungen, die das Klettern als Konfrontationstherapie anbieten. Wahrscheinlich wird die Klettertherapie bei der steigenden Patientenzahl als Alternative zu Medikamenten und Einzeltherapien eine immer wichtigere Rolle einnehmen. Bis jedoch Forscher darauf aufmerksam werden, bleibt Klettern wohl in erster Linie ein Hobby.

*Name von der Redaktion geändert


Kim Mensing studiert Philosophie und Publizistik an der Freien Universität Berlin. Sie liebt Sport, fühlt sich beruflich aber mehr zum Schreiben hingezogen. Auf ihrer Homepage finden sich erste Arbeiten für die Unizeitschrift.

2017-07-06T12:18:09+02:00 Kategorien: Gefühl + Glaube, Lesen, Wissen + Wirken|Tags: , , , , , |