Zum Ende eines jeden Semesters naht für fast alle Studierenden das Unvermeidliche: die Klausurenzeit. Stapel von Büchern und ordnerdicke Skripte müssen abgearbeitet werden, will man auf alle Prüfungsfragen vorbereitet sein. Mut zur Lücke ist da oft unumgänglich. Doch ein Australier verspricht jetzt Abhilfe: Stan Rodgers` Zauberformel lautet: Improved Reading. Besser lesen mit System. Dahinter verbirgt sich ein Unterrichtskonzept, das dazu befähigen soll, schneller und effektiver zu lesen.
Franziska Garbe, Studentin der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, hat einen der zweitägigen Kurse, die ein kommerzieller Veranstalter zum Studierendentarif von 150 Euro anbietet, besucht und die Methode im Selbstversuch getestet.
Ein Freitag in den Semesterferien: Der Campus in Lankwitz ist wie ausgestorben. Nieselregen hüllt den Gebäudekomplex in tiefe Depression. Trotzdem will ich hier ein kostbares Wochenende dem Erlernen verbesserter Lesetechniken opfern, denn ich bin geneigt, den hohen Preis bereits als Gütesiegel anzunehmen. Als ich dann den Seminarraum betrete, geht auch schon die Sonne auf und das liegt nicht nur am gleißend hellen Kunstlicht: Mit strahlendem Lächeln und festem Händedruck begrüßt mich der australische Kursleiter Lars Pedersen persönlich und fragt sogleich diensteifrig nach meinem Namen. Er ist die leibhaftige Symbiose aus einfühlsamem Pädagogen und smartem Businessman: groß, schlank, dunkler Anzug mit Krawatte, sanfte Stimme, Dauerfreundlichkeit. Wegen der englischsprachigen Begrüßung stottere ich etwas verdattert einige Floskeln in der fremden Sprache hervor, werde rot und beeile mich, mit gesenktem Kopf den nächsten freien Platz anzusteuern. Hoffentlich fragt er mich nichts mehr! Die nachfolgenden Ankömmlinge scheinen ähnlich verunsichert.
Im Kampf gegen die Zeit
Endlich trifft auch der letzte Teilnehmer ein. Er kommt extra aus Hamburg und hat sich wegen eines Staus auf der Autobahn verspätet. Jetzt aber los: Time is money! Wie zur Bestätigung stellt Lars Pedersen eine große Stoppuhr mit roter Digitalanzeige auf einen Schrank neben der Tafel und erklärt das Chronometer für das kommende Wochenende zu unserem Feind. Kampf den Minuten! Der Regen trommelt inzwischen wie Marschmusik gegen das Fenster.
Schnelleres Lesen solle das Textverständnis nicht beeinträchtigen, warnt Lars Pedersen. Ziel des Kurses sei es vielmehr, die Lesegeschwindigkeit den Kapazitäten des Gehirns anzupassen. Das entspräche einem Tempo von 800 bis 1000 Wörtern pro Minute.
Zunächst soll jeder seine momentane Lesegeschwindigkeit ermitteln. Dabei erlebe ich gleich den ersten Tiefschlag dieses Wochenendes: Ich lese derzeit 105 Wörter pro Minute, während meine Banknachbarin Xenia mehr als doppelt so viele schafft. Die Anzahl der Wörter pro Minute kann man einer Tabelle entnehmen, die auf den zu lesenden Text folgt, und die für ein bestimmtes
Zeitintervall jeweils eine andere Summe angibt. Ist mein Gehirn etwa weniger leistungsfähig als das meiner Banknachbarin? Die verfügbaren Unterrichtsmaterialien bestätigen meine ängstliche Vermutung: Ich bin hart an der Grenze zur Leseschwäche! Verbissen lausche ich den Tipps des Lese-Instructors. Die Wörter sollten beim Lesen nicht einzeln nacheinander, sondern sofort in Wortgruppen erfasst werden, erklärt er. Chunking heißt diese Technik im Fachjargon. Mit Hilfe von Chunking Drills kann sie angeblich trainiert werden. Dazu müssen wir versuchen, eine lange Liste mit Redewendungen möglichst schnell durchzulesen.
Ready ... go! ruft Pedersen in bester Schiedsrichter-Manier und drückt den Startknopf der Uhr. Meine Augen fliegen über die Wortgruppen! Ich muss mich konzentrieren! Ich bin doch nicht blöd! Ich habe keine Leseschwäche! Schneller, schneller, schneller
Endlich bin ich am Ende der Seite angelangt. Mein Kopf glüht, als hätte ich gerade einen Hundert-Meter-Lauf hinter mir. Wir wiederholen diese Übung im Zwei-Stunden-Rhythmus.
Tatsächlich werde ich immer fixer, doch ich bin darüber nicht sehr verwundert. Mein letztes bisschen Verstand sagt mir, dass ich die Wortgruppen nach dem fünften Mal Durchlesen fast auswendig kann und sie deshalb gar nicht mehr richtig lesen muss. Mit jedem neuen Chunking Drill nehmen außerdem meine Kopfschmerzen zu und proportional dazu auch mein Ärger. Warum tue ich mir diesen Stress überhaupt an? Ich habe Ferien! Ich könnte lesen, fernsehen, einkaufen gehen. Stattdessen sitze ich angespannt in diesem Seminarraum, in dem die Luft immer stickiger wird.
Push yourself bring dich an deine Grenzen!
Der Höhepunkt der Tortur sind die Übungen mit dem Accelerator. Je nachdem auf welche Stufe man dieses Gerät einstellt, senkt sich ein Balken mehr oder weniger schnell über die Zeilen einer Seite, während der Leser versuchen muss, die letzte, vom Balken noch nicht verdeckte Zeile zu lesen. Push yourself bring dich an deine Grenzen!, ruft Lars Pedersen enthusiastisch und stellt meinen Accelerator kurzerhand von Stufe 60 auf 75. Meine Augen fliegen, gejagt von dem sich unerbittlich senkenden Balken, über die Zeilen. Ich weiß nach drei Seiten immer noch nicht, worum es in der Geschichte, die ich gerade lese, überhaupt geht. Mein Kopf ist dem Platzen nahe und die Buchstaben verschwimmen vor meinen brennenden Augen. Meine Skepsis wächst.
Pedersen, der das bemerkt, ermahnt mich, auch an seine anderen Anweisungen zu denken: Lesen, ohne im Text wieder zurück zu springen! Den Text in sich aufnehmen, ohne ihn sich leise im Kopf selber vorzulesen! Absätze, die nicht zum Verständnis beitragen, einfach auslassen! Noch einmal bemühe ich mich redlich. Doch aus den Augenwinkeln sehe ich die Augen meiner Mitstreiter über die Zeilen fliegen, sehe, wie sie ihre Köpfe schon Minuten früher als ich zur Uhr hochreißen, um nur ja keine Sekunde zuviel abzulesen. In jedem scheint von der ersten Minute an der Ehrgeiz geweckt, schneller als der Banknachbar weiterblättern zu können.
Ich aber schaffe es nicht, ganze Wortgruppen auf einmal in mich aufzunehmen, noch die leise Stimme aus meinem Kopf zu verdrängen.
Aus Scham fange ich an zu schummeln: Als ich angeben muss, wie viele Seiten meines Romans ich in fünf Minuten bewältigt habe, mogele ich einfach zwei Seiten dazu. Wer von meinen Leidensgefährten das wohl auch so macht? Wenn deren rekordverdächtige Ergebnisse nicht alle erlogen sind, müsste ich zwischen lauter Supermännern und Intelligenzbestien sitzen! Der Hamburger beispielsweise will dank Chunking Drills und Accelerator-Folter innerhalb von 10 Minuten vierzig Seiten bewältigen. Ich unterdrücke ein Grinsen und würde ihm am liebsten nachsichtig auf die Schulter klopfen. Ob er ahnt, dass er sich möglicherweise selbst auf den Leim gegangen ist? Wohl kaum, denn die hohen Kursgebühren und die beschwerliche Anreise haben ihn gegen jeden Zweifel am Lernerfolg immunisiert. Und wie er sind auch alle anderen mit dem Ergebnis zufrieden der Kursleiter, weil er gute Geschäfte gemacht hat, und die Teilnehmer, weil sie glauben, ein Patentrezept für schnelles Lernen gefunden zu haben.
Ich aber traue dem Braten nicht und befrage deshalb Tage später einen Experten, ob mein Verdacht, dass eventuell Selbstbetrug die Wahrnehmung der Teilnehmer getrübt habe, berechtigt sein könnte. Nein, Selbstbetrug ist das nicht, sagt der Psychotherapeut und Leiter der FU-Studienberatung Hans-Werner Rückert, aber das Phänomen ist in der Sozialpsychologie als effort justification bestens bekannt. Je mehr Aufwand man betreibt, desto kränkender wird es, sich einzugestehen, dass alles für die Katz war. Damit steigt die Bereitschaft, das Positive an den Dingen zu sehen und das Negative auszublenden.
Das ist die Bestätigung: Improved Reading ist keine seriöse Lehrmethode, sondern eine einträgliche Geschäftsidee, die von der Leichtgläubigkeit anderer profitiert. Beinahe wäre auch ich auf den australischen Voodoozauber reingefallen.
Franziska Garbe
Illustration: Hanhart
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