Stefanie Stallschus - Gombrich / Luhmann // Fortschritt / Evolution


Von Kunstgeschichte und Gesellschaftstheorie Man verfolgt die Idee vom Fortschritt oder überträgt die Evolutionstheorie auf soziale Vorgänge Man geht aus vom Lebensraum des Bildes oder von der Autopoiesis des Systems Man unterscheidet die Situation des Künstlers von der Logik des Systems
Die Hypertrophie der Stile oder: gewinnt die Evolution an Tempo? Ausblick auf die Bedeutung für die zeitgenössische Kunst Systemtheorie in der Kunstwissenschaft Literatur / Abbildungen

Eine entscheidende Frage, die in Luhmanns Analysen der Systeme immer wieder auftaucht, lautet: wie vermag ein System, das sich verändert, weiterhin die eigene Reproduktion aufrechtzuerhalten? Eine Erklärung besteht darin, den stabilen Code eines Systems von den fluiden Programmen zu unterscheiden. Für die Operation "am Kunstwerk orientiertes Beobachten" läßt sich also der binäre Code ausmachen, nach dem Kunstwerke als schön oder häßlich, bzw. als stimmig oder unstimmig beurteilt werden. Zusätzlich beruht eine solche Beurteilung auf Kriterien, d.h. es gibt inhaltliche Vorgaben für die codegeführten Operationen. Sie bestehen in Programmen, worunter z.B. die Etablierung eines Stils verstanden werden kann. Aus einer anderen Perspektive erscheint Stil als eine Möglichkeit, im Kunstsystem auf den Unterschied von Operation und Struktur, bzw. Variation und Selektion aufmerksam zu machen, weshalb er beständig zur Überschreitung anregt. Wie oben schon dargestellt, verändert sich mit der Historisierung das Phänomen 'Stil' insofern, als daß es nicht mehr auf der Formebene verbleibt, auf der evolutionäre Strukturselektion stattfindet, sondern die Stile zu Programmen für die Programmierung von Kunst werden. Damit wird erstmals eine bewußte Stilpolitik möglich gemacht, die über eine Legitimation von Qualität hinausgeht und statt dessen historisch-situativ definiert, was der eigenen Zeit entspricht.

Man findet bei Gombrich umfängliches Material dafür, daß der Stil sowohl konformes als auch abweichendes Verhalten legitimiert, und daß eine Theorie (bspw. der Landschaftsmalerei) auch vor der Werkproduktion entworfen sein kann. Im zweiten Teil der Aufsätze über den Fortschritt greift er das Problem auf anhand eines Zitats von Hans Tietze, in dem die Auswirkungen des Fortschrittsgedankens - eines zwangsläufigen Fortschritts, weil er als verlängerte Geschichte erscheint - auf die zeitgenössische Kunstproduktion zu Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben werden. Die rasante Abfolge von Stilen und künstlerischen Richtungen entpuppt sich als grotesker, hypertroph beschleunigter Reigen der "-ismen". Tietze sah den Ursprung dafür in den vorherrschenden philosophischen Anschauungen und ihrem Einfluß auf Kunstgeschichte und -theorie, dem Gombrich dann im folgenden ausführlicher nachgeht.

Auch Luhmann beschreibt den beschleunigten Wechsel der Stile, aber bei ihm ist es die Evolution, die an Tempo gewinnt. Durch die Historisierung sind die Stile vergleichbar geworden und die Kriterien werden zu relativen, d.h. der Stil gibt selbst die Direktiven für die Abweichung vom Stil. Die strukturellen Faktoren, die einstmals für Stabilität gesorgt haben, werden destabilisiert. Selektion, die auf Stil hin erfolgt, kann nicht mehr für die Restabilisierung sorgen, womit an diesem Punkt die beiden Mechanismen Selektion und (Re-) Stabilisierung sich endgültig trennen. Diese Ausdifferenzierung von Variation, Selektion und (Re-) Stabilisierung ermöglicht ihre Vernetzung untereinander, wodurch das Tempo zunimmt. Sichtbar wird die Beschleunigung u.a. daran, daß die Stilwechsel nicht mehr durch den Wechsel der Generationen erklärt werden können, sondern umgekehrt die Generationen sich danach bestimmen, welcher Stil etwa in ihrer Jugend Mode war.

Während Gombrich sich die Frage stellt, wie einschneidende gesellschaftliche Veränderungen in der Entwicklung der Kunst ihren Nachhall finden können, und er geht hierfür auf den technischen Innovationsschub des 16. Jahrhunderts zurück , so verleiht Luhmann der wachsenden Autonomie der Kunst Nachdruck, da sie erst dadurch zu einem funktionalen Teilsystem des Gesellschaftssystems wird. Auch er erwähnt Reaktionen des Kunstsystems auf veränderte Umweltbedingungen, etwa wenn er die wechselnde Rolle von Auftraggeber und Publikum einbezieht. Er betont aber nachdrücklich, daß die Evolution des Gesellschaftssystems nur Bedeutung gewinnt für die eigene Evolution des Kunstsystems. Diese Auffassung ist nicht zu verwechseln mit der Position Adornos, welcher der Kunst eine Gegenposition zur Gesellschaft zugeschrieben hatte; vielmehr teilt die Kunst bei Luhmann das Schicksal der modernen Gesellschaft bezüglich der Ausdifferenzierung.

Faszinierend wird die Theorie Luhmanns genau an dem Punkt, wo es um die Situation der Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa geht. Erst die Beschreibung eines evoluierenden Kunstsystems, dessen Ausdifferenzierung die Unempfindlichkeit für beliebige und die Empfindlichkeit für bestimmte Umweltereignisse steigert, vermittelt ein Verständnis dafür, warum die Kunst ein zunehmendes Operationsbewußtsein entwickelt und in einzelnen Werken thematisiert. Mit Picasso benennt er einen repräsentativen Künstler des Jahrhunderts, dessen einheitliches Werk nicht als Form oder Stil begriffen werden kann, sondern als Ironie, die sich an Formen und Stilen erprobt. Es läßt sich eine Entwicklung nachzeichnen, wie die Kunst ihr Verhältnis zur außerkünstlerischen Wirklichkeit zunehmend umdisponiert, ohne dafür auf Negationen angewiesen zu sein. Wenn man der Beschreibung folgt, daß die Perfektionierung der Autonomie in dem Einschluß der Selbstnegation ins System besteht, dann wird man einige Entwicklungslinien in der modernen Kunst anders akzentuieren als bisher. Für die abstrakte Kunst würde der Fokus nicht mehr darauf liegen, daß sie alles in der Kunst abstrahiert, was von außen kommt, was nicht der Kunst selbst eigen ist. Im Gegenteil wäre die Absolutsetzung der Form die vollständige Aufgabe des Unterschieds von fiktionaler und realer Realität, womit sich die Selbstbeschreibung der Kunst erstmals durch die Realisierung der eigenen Überzeugungsmittel positiviert. Und das Interesse am Design als künstlerischer Bewegung wäre nicht mehr als eine Organisationsmethode des allgemeinen Lebens wahrzunehmen, sondern der Versuch die Nichtkunst wieder in die Kunst eintreten zu lassen.

Es geht wohl nicht zu weit, zu behaupten, daß für Gombrich und für Luhmann die Entwicklung der Kunst in der Moderne einen entscheidenden Anstoß darstellt, Fortschritt und Evolution für die Kunst zu thematisieren. Nicht nachvollziehbar ist, warum die Autoren diesen Themenbereich nicht konsequent vertiefen. Beide erwähnen den Erfolg des Buchdrucks im 16. Jahrhundert als gewichtige Bedingung für eine veränderte Wahrnehmung, welche auch die Grundlagen der Beschäftigung mit Kunst neu bestimmt. Vor diesem Hintergrund kann es nur als Versäumnis erscheinen, daß beide nicht von den sich neu etablierenden Medien des 19. und 20. Jahrhunderts sprechen: der Fotografie, dem Film, Rundfunk und Fernsehen, Video und Computertechnik. Man müßte doch fragen, welche Rolle diese technischen Revolutionen für das 20. Jahrhundert spielen und wie sich im Zuge dessen erstens) gesellschaftliche Rahmenbedingungen ändern und zweitens) neue inhaltliche Vorgaben für die Operationen des Kunstsystems entstehen. Was die Auffassung des Werkbegriffs betrifft, läßt sich ein neues Programm formulieren, das von der territorialen Behauptung zu einer dynamischen Auffassung wechselt, so daß die Künste als Bewegungen durch Medien hindurch angesehen werden und nicht mehr als mit Medien operierende.

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