Stefanie Stallschus - Gombrich / Luhmann // Fortschritt / Evolution | ||
Vorab gilt es zu klären, welche Vorstellung von ihrem Gegenstand
die beiden Autoren ihren Überlegungen zu Grunde legen. Beide vereint,
daß sie die Kunst zuerst als sozial verankertes Phänomen begreifen.
Gombrich besteht darauf, daß der Begriff der Kunst gesellschaftlich
bedingt sei und äußert in diesem Sinne: "Ich habe es deshalb
für besser gehalten, den Leser sofort darauf aufmerksam zu machen,
daß ich nicht von einer Definition [der Kunst] ausgehe, weil es eben
wir sind, die die Definitionen schaffen, und weil es kein 'Wesen' der Kunst
gibt: wir können entscheiden, was wir als 'Kunst' bezeichnen wollen
oder nicht." Wenn er herausstellt, daß es sich um eine gesellschaftliche
Übereinkunft handelt, dann lenkt er auch die Aufmerksamkeit darauf,
daß "die" Kunst zunächst eine Abstraktionsleistung darstellt,
die in erster Linie einer historischen Betrachtung geschuldet ist. Winckelmann
war in diesem Sinne der erste, der sich um eine Definition der griechischen
Kunst bemühte, um trotz des lückenhaften historischen Wissens
eine kunsthistorische Ordnung herzustellen. Es verwundert also nicht, daß
Gombrich sich in anderen Zusammenhängen auch mit Randgebieten der
Kunst, wie der Karikatur oder dem Ornament ausführlich befaßt
hat.
Luhmann versteht die Kunst als ein soziales System des Herstellens und
Erlebens von Kunstwerken, oder, auf den Punkt gebracht, spricht er
von einem Kunstsystem. Nicht das Individuum, der Künstler oder Rezipient
und auch nicht das Kunstwerk stehen seiner Auffassung zufolge im Mittelpunkt,
sondern das Zusammenspiel der sozialen Tätigkeiten zu einer systemischen
Struktur. Das Verhältnis dieses Systems zur Gesellschaft ist - wie
bei jedem System - ein funktionales; nach einer ganz allgemeinen Definition
besteht die Funktion der Kunst "in der Konfrontierung der (jedermann geläufigen)
Realität mit einer anderen Version derselben Realität", mit
anderen Worten: in der Sichtbarmachung der Kontingenz. Das Interesse an
der Funktion des Kunstsystems innerhalb des Gesellschaftssystems führt
zudem dazu, daß er keine Differenzierung der einzelnen Künste
vornimmt. In der Vogelperspektive gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied
zwischen der Literatur, dem Theater oder der Bildenden Kunst, so daß
Luhmann häufig - aus seinem speziellen Interesse heraus - Beispiele
aus der Literatur anführt. Eine entscheidende Grenze zieht er erst
wieder an dem Punkt, wo ein anderes Teilsystem der Gesellschaft beobachtet
wird, z.B. das der Massenmedien oder das der Wirtschaft. Deshalb argumentiert
er mit Beispielen aus der hohen Kunst, wohingegen das, was man als Volks-
oder Massenkunst bezeichnen würde, keine Erwähnung findet.
An dieser Stelle trifft er sich insofern mit Gombrich, als auch dieser
vornehmlich Kunstwerke aus dem allgemein anerkannten Kanon der Kunstgeschichte
wählt, denn für ihn sind die großen Künstler auch
die "faszinierenderen". Da mit der Kunst des 20. Jahrhundert eine solche
Grenzziehung zumindest fraglich geworden ist, läßt sich eine
erste Kritik an beiden Autoren ansetzten. Dieser Punkt soll später
noch einmal aufgegriffen werden.
Gombrichs Sensibilität für das Konstruierte am Begriff der
"Kunst" schließt ein, daß er eine Differenzierung vornimmt
von verschiedenen Faktoren, die am Kunstprozeß beteiligt sind und
eine eigene historische Entwicklung besitzen. Es gibt eine technische Entwicklung
oder einen technologischen Fortschritt, so daß es nicht zu allen
Zeiten dieselben Gestaltungsmöglichkeiten gibt, aber auch eine Entwicklung
der Funktion, des Geschmacks, der Stile, usw. Nimmt man all diese Faktoren
zusammen und versteht sie als einen gesellschaftlichen Kontext, der die
Entwicklung des Kunstwerks bestimmt, dann kann man von einem "Lebensraum"
des Kunstwerks sprechen. Gombrich benutzt hierfür die Metapher von
der "Ökologie" des Kunstwerks. Dieser Ansatz impliziert, daß
es gilt, den Lebensraum des Kunstwerks und die Situation des Künstlers
zu rekonstruieren, um zu einer überzeugenden, kunsthistorischen Interpretation
zu gelangen.
Bei Luhmann ist das einzelne Kunstwerk schon Ausfluß eines evolutionären
Entstehungsprozesses, denn - operativ gesehen - beeinflußt die erste
Entscheidung, mit der ein Künstler die Arbeit aufnimmt, die folgende
Formenkombination. Wird eine solche Theorie der Formenkombination als Ausgangspunkt
genommen, dann könnte der Ursprung der Kunst im Ornament - als einem
Regelwerk der Formenkombination - vermutet werden. So wie eine Operation
auf die nächste reagiert und sich zu einer Formbildung, einem Ordnungsgefüge
verdichtet, so gilt auf der Ebene des Systems, daß es sich autopoietisch
selbst erzeugt, indem es die elementaren Einheiten ermöglicht, aus
denen es besteht, und zwar durch Verknüpfung dieser Einheiten. Folglich
ist es Luhmanns Anliegen die evolutionären Mechanismen zu benennen,
deren Ausbildung zu einer autopoietischen Schließung des Systems führen.
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