Stefanie Stallschus - Gombrich / Luhmann // Fortschritt / Evolution


Von Kunstgeschichte und Gesellschaftstheorie Man verfolgt die Idee vom Fortschritt oder überträgt die Evolutionstheorie auf soziale Vorgänge Man geht aus vom Lebensraum des Bildes oder von der Autopoiesis des Systems Man unterscheidet die Situation des Künstlers von der Logik des Systems
Die Hypertrophie der Stile oder: gewinnt die Evolution an Tempo? Ausblick auf die Bedeutung für die zeitgenössische Kunst Systemtheorie in der Kunstwissenschaft Literatur / Abbildungen

Es ist eine Tatsache, daß die Kunstgeschichte ohne den Begriff der Entwicklung und des Fortschritts ebensowenig auskommt wie die Geschichte der Wissenschaften. Vorstellungen von Entwicklung oder auch Entwicklungsmodelle hat es zu allen Zeiten in der europäischen Kunstbetrachtung gegeben, auch wenn eine (Weiter-) Entwicklung der künstlerischen Darstellung nicht zu allen Zeiten einen eigenen Wert darstellte. Ein wenig lapidar kann man auf das Medium der Sprache verweisen, das jede literarische Darstellung, insbesondere die wissenschaftliche, an eine sukzessive, lineare Ordnung bindet. Nicht umsonst aber ist gerade die Kunstgeschichte in Bezug auf den Entwicklungsgedanken des öfteren als Vorreiter vor den anderen Geschichtswissenschaften angeführt worden, weil in ihren Fragestellungen das Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation, von Sozialität und Individuum auffällig virulent ist.

Die beiden Autoren, Ernst Hans Josef Gombrich (30.3.1909-3.11.2001) und Niklas Luhmann (8.12.1927-6.11.1998), haben beide in einem Jahrhundert gelebt, in dem einerseits die Entwicklungspotentiale von Gesellschaft exzessiv befragt, reflektiert und politisch instrumentalisiert worden sind. In die Auseinandersetzung um Aufklärung, Revolution, Evolution und Dialektik sind auch die Künste im 20. Jahrhundert immer wieder verstrickt worden. Und andererseits ist zwar nicht zum ersten Mal in der Geschichte, aber doch sehr massiv das Ende der Kunst von verschiedenen Seiten diagnostiziert worden: es sei der Maßstab verloren gegangen, nach dem ihr humanistischer Wert beurteilt werden könne; im Vergleich mit den (Natur-) Wissenschaften erweise sie sich als nutzlos; im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit verliere sie ihre Legitimation; usw. Beides mag dazu beigetragen haben, daß der Blick der Autoren geschärft wurde für Entwicklungsvorgänge und ihre Bedingungen in der Kunst.

Aber zunächst ist es sinnvoll, mit einem historischen Exkurs zu den Autoren zu beginnen. Gombrich, der in Wien geboren wurde und dort zunächst bei Julius von Schlosser studierte, promovierte mit einer Arbeit über den Palazzo del Te von Mantua. 1936 emigrierte er nach England und arbeitete zunächst mit Unterbrechungen am Warburg Institut, dessen Direktor er 1959 wurde. Neben verschiedenen Gastprofessuren in England (Oxford, Cambridge) hatte er durch zahlreiche Amerikareisen auch Kontakte zu renommierten Universitäten in den Vereinigten Staaten (Harvard). Themenschwerpunkt seiner Publikationen bildet die italienische Renaissance, doch charakteristisch für die meisten seiner Untersuchungen ist eine Vorliebe für allgemeinere Fragestellungen, die sich aus psychologischen, biologischen, soziologischen und ästhetischen Quellen speisen. Bekannteste Beispiele dafür sind die Bücher Art and Illusion und Sense of Order . Wenn er auch keine eigene Methode begründet hat wie etwa Panofsky, so gilt er allgemein als einer der wichtigsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt weil er darauf beharrte, daß gerade für die nicht exakten Geisteswissenschaften die kritischen Vernunft unerlässliche Bedingung sei.

So wichtig wie Gombrich für die Kunstgeschichte, so unumgänglich ist Luhmann mit seiner Systemtheorie in der Soziologie. Geboren 1927 in Lüneburg wurde Luhmann als junger Mann noch 1944 als Luftwaffenhelfer eingesetzt. Nach dem Krieg studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg und machte zunächst Karriere als Verwaltungsbeamter. 1960 ließ er sich beurlauben, um in Harvard bei Talcott Parsons zu studieren, von dessen Systembegriff er sich in Folge abgrenzte, um seine eigene Interpretation kybernetischer und systemischer Modelle für die Sozialwissenschaften zu entwickeln. In schneller Folge legte er 1966 Dissertation und Habilitation bei Helmut Schelsky vor und trat 1968 eine Professur für Soziologie an der neu gegründeten Reformuniversität Bielefeld an. Sein Hauptwerk Soziale Systeme erschien 1984, die Beschreibung einzelner Subsysteme erfolgte mit Wirtschaft der Gesellschaft, Recht der Gesellschaft oder auch Gesellschaft der Gesellschaft.

Luhmanns Gesamtunternehmung besteht darin, eine Gesellschaftstheorie zu entwerfen, die auf der Basis der funktionalen Differenzierung nach der Funktionsweise von sozialen Systemen fragt und sie miteinander vergleichbar macht. Die Kunst wird demnach als ein soziales System unter anderen betrachtet, und daß von ihr die Rede ist, "liegt nicht an den besonderen Neigungen des Verfassers für diesen Gegenstand, sondern an der Annahme, daß eine auf Universalität abzielende Gesellschaftstheorie nicht ignorieren kann, daß es Kunst gibt". Will man das theoretische Instrumentarium vorstellen, dann ist festzuhalten, daß als System zunächst alles das gilt, worauf sich die Unterscheidung von innen (System) und außen (Umwelt) anwenden läßt. Das soziale System besteht grundsätzlich aus Kommunikation, die durch Kommunikation ermöglicht und reproduziert wird. Dieser letzte Punkt beschreibt schon das autopoietische System, denn Autopoiese findet statt, wenn Systeme die Elemente, aus denen sie bestehen, produzieren durch die Elemente, aus denen sie bestehen, was nichts anderes meint, als daß sie sich selbst generieren. Das gilt für das Gesellschaftssystem als ganzes, aber auch für einzelne, funktionsbezogene Teilsysteme. Erst im Rückgriff auf die Systemtheorie sei es möglich, einen adäquaten Versuch zu wagen, die Evolutionstheorie auch auf soziale Vorgänge zu übertragen.

Als Theoretiker beschreibt Luhmann gesellschaftliche Differenzen und Funktionen, die eine Entwicklung haben. Für ihn ist die gewählte Theorie zunächst die "richtige", was impliziert, daß die (historischen) Beispiele nach dieser Theorie ausgewählt werden und bei gravierender Kritik gegebenenfalls die Theorie ersetzt wird. Das ist eine grundsätzlich andere Art des Denkens als bei dem (Kunst-) Historiker Gombrich. Gombrich entwirft eine historische Darstellung anhand seines Materials, das aus Kunstwerken, Künstlerviten und -aussagen, Kunstkritikern und -philosophen besteht, und damit bringt er Individuen, Situationen und Ereignisse in eine Erzählung, die prinzipiell eine offene ist.

Spielen in Luhmanns Überlegungen die Individuen nur eine untergeordnete Rolle, denn "'Genies' sind Produkte, nicht Ursachen der Evolution" , so heißt es bei Gombrich im Gegensatz dazu: "Genaugenommen gibt es die 'Kunst' gar nicht. Es gibt nur Künstler." Dieser Satz erklärt sich zwar auch aus einer Kritik heraus an einer bestimmten Tradition der Geschichte, ein "Wesen" der Kunst oder einen "Zeitgeist" zu konstruieren, doch läßt sich generell festhalten, daß Gombrich in seinen Arbeiten das Individuum mit seinen Entscheidungsmöglichkeiten für eine Kunstentwicklung stark macht. Infolge dessen widmet er sich in seinem Text der "Idee" des Fortschritts, wie sie in verschiedenen Zeiten von verschiedenen Künstlern oder Kritikern aufgegriffen wurde, womit er eine kulturelle Vorstellung in ihrer Kontinuität verfolgt durch verschiedene Epochen und Stile hindurch - wie die Kapitelüberschriften "vom Klassizismus zum Primitivismus", "von der Romantik zum Modernismus" erkennen lassen. Auch wenn eine Differenzierung an dieser Stelle zunächst keinen Unterschied zu machen scheint, so muß doch betont werden, daß Luhmanns Interesse den Diskontinuitäten historischer Entwicklungen gilt. Er verweist auf Phasen der Stagnation, des Ausreizens von Formen oder dem plötzlichen Entstehen von systemischer Autonomie, die es zu erklären gilt.

Luhmann äußert ein grundlegendes Erstaunen darüber, daß es zu einer hohen strukturellen Komplexität in den Formen des sozialen Lebens kommt, daß der Zufall in Notwendigkeit transformiert wird, was nichts anderes heißt als ein Erstaunen darüber, daß sich ein ausdifferenziertes, komplexes System dennoch selbst erhalten kann. In diesem Punkt trifft er sich in gewissem Sinne mit Gombrich, der in seiner Weise, die Perspektive des Individuums betonend, formuliert: "In der Renaissance gab es gewiß schlechte Kunst. Aber es gibt heute noch mehr, weil es leichter ist, zu scheitern. Es wird immer schwieriger, die immense Komplexität zu beherrschen, die das Medium bietet. Wenn das System einfacher ist, sind die Risiken geringer."

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