Es ist eine Tatsache, daß die Kunstgeschichte ohne den Begriff der
Entwicklung und des Fortschritts ebensowenig auskommt wie die Geschichte
der Wissenschaften. Vorstellungen von Entwicklung oder auch Entwicklungsmodelle
hat es zu allen Zeiten in der europäischen Kunstbetrachtung gegeben,
auch wenn eine (Weiter-) Entwicklung der künstlerischen Darstellung
nicht zu allen Zeiten einen eigenen Wert darstellte. Ein wenig lapidar
kann man auf das Medium der Sprache verweisen, das jede literarische Darstellung,
insbesondere die wissenschaftliche, an eine sukzessive, lineare Ordnung
bindet. Nicht umsonst aber ist gerade die Kunstgeschichte in Bezug auf
den Entwicklungsgedanken des öfteren als Vorreiter vor den anderen
Geschichtswissenschaften angeführt worden, weil in ihren Fragestellungen
das Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation, von Sozialität
und Individuum auffällig virulent ist.
Die beiden Autoren, Ernst Hans Josef Gombrich (30.3.1909-3.11.2001)
und Niklas Luhmann (8.12.1927-6.11.1998), haben beide in einem Jahrhundert
gelebt, in dem einerseits die Entwicklungspotentiale von Gesellschaft exzessiv
befragt, reflektiert und politisch instrumentalisiert worden sind. In die
Auseinandersetzung um Aufklärung, Revolution, Evolution und Dialektik
sind auch die Künste im 20. Jahrhundert immer wieder verstrickt worden.
Und andererseits ist zwar nicht zum ersten Mal in der Geschichte, aber
doch sehr massiv das Ende der Kunst von verschiedenen Seiten diagnostiziert
worden: es sei der Maßstab verloren gegangen, nach dem ihr humanistischer
Wert beurteilt werden könne; im Vergleich mit den (Natur-) Wissenschaften
erweise sie sich als nutzlos; im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit
verliere sie ihre Legitimation; usw. Beides mag dazu beigetragen
haben, daß der Blick der Autoren geschärft wurde für Entwicklungsvorgänge
und ihre Bedingungen in der Kunst.
Aber zunächst ist es sinnvoll, mit einem historischen Exkurs zu
den Autoren zu beginnen. Gombrich, der in Wien geboren wurde und dort zunächst
bei Julius von Schlosser studierte, promovierte mit einer Arbeit über
den Palazzo del Te von Mantua. 1936 emigrierte er nach England und arbeitete
zunächst mit Unterbrechungen am Warburg Institut, dessen Direktor
er 1959 wurde. Neben verschiedenen Gastprofessuren in England (Oxford,
Cambridge) hatte er durch zahlreiche Amerikareisen auch Kontakte zu renommierten
Universitäten in den Vereinigten Staaten (Harvard). Themenschwerpunkt
seiner Publikationen bildet die italienische Renaissance, doch charakteristisch
für die meisten seiner Untersuchungen ist eine Vorliebe für allgemeinere
Fragestellungen, die sich aus psychologischen, biologischen, soziologischen
und ästhetischen Quellen speisen. Bekannteste Beispiele dafür
sind die Bücher Art and Illusion und Sense of Order . Wenn er
auch keine eigene Methode begründet hat wie etwa Panofsky, so gilt
er allgemein als einer der wichtigsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts,
nicht zuletzt weil er darauf beharrte, daß gerade für die nicht
exakten Geisteswissenschaften die kritischen Vernunft unerlässliche
Bedingung sei.
So wichtig wie Gombrich für die Kunstgeschichte, so unumgänglich
ist Luhmann mit seiner Systemtheorie in der Soziologie. Geboren 1927 in
Lüneburg wurde Luhmann als junger Mann noch 1944 als Luftwaffenhelfer
eingesetzt. Nach dem Krieg studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg
und machte zunächst Karriere als Verwaltungsbeamter. 1960 ließ
er sich beurlauben, um in Harvard bei Talcott Parsons zu studieren, von
dessen Systembegriff er sich in Folge abgrenzte, um seine eigene Interpretation
kybernetischer und systemischer Modelle für die Sozialwissenschaften
zu entwickeln. In schneller Folge legte er 1966 Dissertation und Habilitation
bei Helmut Schelsky vor und trat 1968 eine Professur für Soziologie
an der neu gegründeten Reformuniversität Bielefeld an. Sein Hauptwerk
Soziale Systeme erschien 1984, die Beschreibung einzelner Subsysteme
erfolgte mit Wirtschaft der Gesellschaft, Recht der Gesellschaft
oder auch Gesellschaft der Gesellschaft.
Luhmanns Gesamtunternehmung besteht darin, eine Gesellschaftstheorie
zu entwerfen, die auf der Basis der funktionalen Differenzierung nach der
Funktionsweise von sozialen Systemen fragt und sie miteinander vergleichbar
macht. Die Kunst wird demnach als ein soziales System unter anderen betrachtet,
und daß von ihr die Rede ist, "liegt nicht an den besonderen Neigungen
des Verfassers für diesen Gegenstand, sondern an der Annahme, daß
eine auf Universalität abzielende Gesellschaftstheorie nicht ignorieren
kann, daß es Kunst gibt". Will man das theoretische Instrumentarium
vorstellen, dann ist festzuhalten, daß als System zunächst alles
das gilt, worauf sich die Unterscheidung von innen (System) und außen
(Umwelt) anwenden läßt. Das soziale System besteht grundsätzlich
aus Kommunikation, die durch Kommunikation ermöglicht und reproduziert
wird. Dieser letzte Punkt beschreibt schon das autopoietische System, denn
Autopoiese findet statt, wenn Systeme die Elemente, aus denen sie bestehen,
produzieren durch die Elemente, aus denen sie bestehen, was nichts anderes
meint, als daß sie sich selbst generieren. Das gilt für das
Gesellschaftssystem als ganzes, aber auch für einzelne, funktionsbezogene
Teilsysteme. Erst im Rückgriff auf die Systemtheorie sei es möglich,
einen adäquaten Versuch zu wagen, die Evolutionstheorie auch auf soziale
Vorgänge zu übertragen.
Als Theoretiker beschreibt Luhmann gesellschaftliche Differenzen und
Funktionen, die eine Entwicklung haben. Für ihn ist die gewählte
Theorie zunächst die "richtige", was impliziert, daß die (historischen)
Beispiele nach dieser Theorie ausgewählt werden und bei gravierender
Kritik gegebenenfalls die Theorie ersetzt wird. Das ist eine grundsätzlich
andere Art des Denkens als bei dem (Kunst-) Historiker Gombrich. Gombrich
entwirft eine historische Darstellung anhand seines Materials, das aus
Kunstwerken, Künstlerviten und -aussagen, Kunstkritikern und -philosophen
besteht, und damit bringt er Individuen, Situationen und Ereignisse in
eine Erzählung, die prinzipiell eine offene ist.
Spielen in Luhmanns Überlegungen die Individuen nur eine untergeordnete
Rolle, denn "'Genies' sind Produkte, nicht Ursachen der Evolution" , so
heißt es bei Gombrich im Gegensatz dazu: "Genaugenommen gibt es die
'Kunst' gar nicht. Es gibt nur Künstler." Dieser Satz erklärt
sich zwar auch aus einer Kritik heraus an einer bestimmten Tradition der
Geschichte, ein "Wesen" der Kunst oder einen "Zeitgeist" zu konstruieren,
doch läßt sich generell festhalten, daß Gombrich in seinen
Arbeiten das Individuum mit seinen Entscheidungsmöglichkeiten für
eine Kunstentwicklung stark macht. Infolge dessen widmet er sich
in seinem Text der "Idee" des Fortschritts, wie sie in verschiedenen Zeiten
von verschiedenen Künstlern oder Kritikern aufgegriffen wurde, womit
er eine kulturelle Vorstellung in ihrer Kontinuität verfolgt durch
verschiedene Epochen und Stile hindurch - wie die Kapitelüberschriften
"vom Klassizismus zum Primitivismus", "von der Romantik zum Modernismus"
erkennen lassen. Auch wenn eine Differenzierung an dieser Stelle zunächst
keinen Unterschied zu machen scheint, so muß doch betont werden,
daß Luhmanns Interesse den Diskontinuitäten historischer Entwicklungen
gilt. Er verweist auf Phasen der Stagnation, des Ausreizens von Formen
oder dem plötzlichen Entstehen von systemischer Autonomie, die es
zu erklären gilt.
Luhmann äußert ein grundlegendes Erstaunen darüber,
daß es zu einer hohen strukturellen Komplexität in den Formen
des sozialen Lebens kommt, daß der Zufall in Notwendigkeit
transformiert wird, was nichts anderes heißt als ein Erstaunen darüber,
daß sich ein ausdifferenziertes, komplexes System dennoch selbst
erhalten kann. In diesem Punkt trifft er sich in gewissem Sinne mit Gombrich,
der in seiner Weise, die Perspektive des Individuums betonend, formuliert:
"In der Renaissance gab es gewiß schlechte Kunst. Aber es gibt heute
noch mehr, weil es leichter ist, zu scheitern. Es wird immer schwieriger,
die immense Komplexität zu beherrschen, die das Medium bietet. Wenn
das System einfacher ist, sind die Risiken geringer."
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