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Ein DFG-Projekt untersucht die Entwicklungsperspektiven der israelischen Zivilgesellschaft

Von Axel Lange

Die moderne israelische Gesellschaft macht einen widersprüchlichen Eindruck. Das Land verfügt über eine boomende Computerindustrie und ist Heimat des transsexuellen Schlagerstars Dana International, der 1998 den Grand Prix d´Eurovision gewann. Auf der anderen Seite liefern die Medien immer wieder Bilder von religiösen Eiferern, die mit Straßensperren und Steinwürfen auf vorbeifahrende Autos eine radikale Sabbat-ruhe erzwingen wollen. In welche Richtung steuert Israel – ein Land, in dem es heute mehr Torahschulen als im Osteuropa des ausgehenden 19. Jahrhunderts gibt, und wo der klassische Arbeiter-Zionismus eines David Ben Gurion und einer Golda Meir immer mehr an Bedeutung verliert? Dr. Angelika Timm vom Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin möchte mit ihrem Forschungsprojekt "Zivilgesellschaft und Wertewandel in Israel" diesen "Kulturkampf" zwischen religiösen und säkularen Kräften genauer untersuchen. Dabei soll auch die Problematik des nahöstlichen Friedensprozesses, des Ausgleichs zwischen Juden und Palästinensern, nicht vernachlässigt werden. Eine zentrale Frage des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts lautet: Welche Rolle wird Israel in Zukunft im Nahen Osten spielen?

Ein prägnantes Beispiel für den gesellschaftlichen Wandel in Israel ist der Aufstieg der Shas-Partei. Die "Torahwächter"-Partei wurde 1984 als Interessenvertretung ultraorthodoxer Juden orientalischer Herkunft gegründet. Nach der Arbeiterpartei und dem rechtsnationalen Likud-Block ist die Partei mittlerweile zur drittstärksten politischen Kraft aufgestiegen. In der gegenwärtigen Regierung stellt Shas vier Minister. Die ultraorthodoxe Partei wird erstaunlicherweise auch von nichtreligiösen Israelis gewählt. "Shas vertritt mit ihren religiösen Parolen vor allem die sozialen Interessen der benachteiligten orientalischen Bevölkerungsschichten", begründet Projektmitarbeiter Felix Neugart den politischen Erfolg der religiösen Bewegung. Die Partei unterhalte neben Schulen, einer Radiostation und einer Zeitung auch soziale Dienste wie eine Wohnungsvermittlung. Dies mache sie für kinderreiche und sozial schwache orientalische Familien besonders attraktiv.

Viele orientalische Israelis würden, so Neugart, auch die restriktive Haltung von Shas in der Einwanderungspolitik begrüßen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seien viele säkular orientierte Juden ins Land gekommen, im Zuge der Familienzusammenführung zudem viele Nichtjuden – Einwanderer, die den Anschluss an die europäisch geprägte Elite suchten. Neugart: "Wenn Shas strikte religiöse Kategorien für die Einwanderung fordert, gibt die Partei zugleich eine Antwort auf die Angst vieler Israelis vor sozialer Deklassierung."

Ist Shas nur eine Partei der sozial Schwachen? Unbestritten ist, dass die religiöse Partei in ärmeren Regionen Israels die meisten Stimmen erzielt. Die Wahlerfolge von Shas haben, so der FU-Mitarbeiter, aber noch eine andere Bedeutung: als Protest gegen die Auflösung alter Traditionen und den Hedonismus der "Spaßgesellschaft". Und: als Protest gegen den paternalistischen Fortschrittsbegriff der Arbeiterpartei: "Schon die Pioniere des Arbeiter-Zionismus wollten den orthodoxen Juden die Schläfenlocken abschneiden und sie in eine moderne Gesellschaft zwingen."

Wird Israel zu einer "Nation der Torah"? Wohl kaum. Felix Neugart nimmt an, dass Shas nach den großen Erfolgen der letzten Wahlen ihr Stimmenpotenzial weitgehend ausgeschöpft hat. Die religiöse Partei hat in der letzten Zeit zudem massiven Gegenwind bekommen: Parteichef Arieh Der´i musste wegen eines Bestechungsskandals zurücktreten. Und: Shas hat mit ihren religiösen Parolen eine starke säkulare Protestbewegung ausgelöst, die in der neuen Partei Shinui (Der Wandel) ihr Sprachrohr gefunden hat. Die zentrale Forderung der Säkularen: eine radikale Kürzung der staatlichen Zuschüsse für Shas und andere religiöse Parteien, die mit ihrem Bildungssystem nur Torahschüler produzierten und damit keinen effektiven Beitrag für die gesamte Gesellschaft leisten würden. Damit legen die Kritiker von Shas den Finger auf einen wunden Punkt: Die Ultraorthodoxen werben zwar bei der Jugend für ihr Ideal, das Leben mit religiösen Übungen und Studien zu verbringen. Sie sind aber nur mit der Hilfe staatlicher und internationaler Geldgeber in der Lage, diesen frommen Lebenswandel auch zu finanzieren. Anders gesagt: Dem Wachstum der "Nation der Torah" sind deutliche ökonomische Schranken gesetzt.

Wie sieht die israelische Gesellschaft der Zukunft aus? Kann schon während des laufenden Forschungsprojekts eine Prognose für den Ausgang des Kulturkampfs gewagt werden? Projektmitarbeiter Neugart denkt nicht in den Kategorien Sieg oder Niederlage. Er geht eher davon aus, dass sich die verschiedenen Gruppen der israelischen Zivilgesellschaft weiter verselbständigen und Subkulturen entwickeln, die im täglichen Leben nicht mehr viel miteinander zu tun haben werden. Besteht dann die Gefahr, dass der Staat auseinanderbricht? Felix Neugart runzelt kurz die Stirn und schüttelt dann den Kopf: "Ich denke, die integrierenden Kräfte der israelischen Gesellschaft werden sich als stärker erweisen."

 
 
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