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[Shalini Randeria]

von Susanne Weiss

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Foto: Hans Georg Lindenberg

Im Mai 2000 klagte der indische Bauer Ranjithe de Silva zusammen mit Nicht-Regierungs-Organisationen, der belgischen Umweltministerin Magda Aelvoet und dem indischen Fabrikanten Abhay Phadke vor dem Europäischen Patentamt in München gegen den amerikanischen Chemiekonzern W. A. Grace und die US-Landwirtschaftsbehörde. Prozessgegenstand waren die 42 Patente für die Verwertung des indischen Neem-Baumes im Besitz der Amerikaner und die entsprechenden Rechte für den europäischen Markt. Ranjithe de Silva wurde von einem Schweizer Juraprofessor vertreten, die Gegenseite von einer Hamburger Anwaltskanzlei.

Für die klassische Rechtswissenschaft ist dieses Beispiel einer Globalisierung ein unübersichtlicher Sachverhalt. Und der Bauer? „Gegenstand” der Ethnologie ist er nur zu Hause in seinem Dorf, wo anderes Recht und Gesetz herrschen. Ginge er aber als Wanderarbeiter in die Stadt, weil ihm durch transnationale Konzerne seine Lebensgrundlage entzogen wäre, würde er zum Thema der Entwicklungssoziologie – einer Disziplin, die nach eigener Definition für nicht weniger als zwei Drittel der Menschheit zuständig ist.

„Wir brauchen neue Disziplinen”, sagt Shalini Randeria, Soziologin und Ethnologin, seit 1986 an der FU. Im Institut für Ethnologie unterrichtete sie mehrere indische Sprachen, Landeskunde und Ethnologie. Ein Jahr nach der Promotion wechselte sie 1993 ins Institut für Soziologie; derzeit ist sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

„Es ist notwendig, eine globalisierte Sozialtheorie zu entwickeln, die auch das Wissen der &Mac226;nicht-westlichen‘ Welt ernst nimmt”, fordert die gebürtige Inderin. Doch in Europa herrscht noch immer die westliche Zentralperspektive, koloniales Erbe des 19. Jahrhunderts: &Mac226;Wir und die anderen – die imperiale Zweiteilung der Welt‘. Die Soziologie konstituierte sich als Wissenschaft der „Moderne” im Kontext des europäischen Nationalstaates. Der „nicht-moderne” Rest der Welt wurde unterteilt in „Stämme” (Gegenstand der Völkerkunde), „Hochkulturen” und „Weltreligionen” (Indologie, Sinologie, Iranistik). So fragwürdig und willkürlich diese Unterteilung theoretisch und empirisch ist, so eifersüchtig werden die jeweiligen wissenschaftlichen Territorien verteidigt. „Die Grenzen zwischen Disziplinen sind oft ebenso stark emotional besetzt wie die zwischen Nationalstaaten”, weiß die Sozialwissenschaftlerin. Dabei prägte der Kolonialismus nicht nur die Kolonisierten, sondern auch nachhaltig die Konstituierung der Metropolen, die Formierung des Staates und die Entwicklung der Wissenschaften in Europa. Shalini Randeria zitiert ihren Landsmann Salman Rushdie: „Die Engländer wissen nichts über ihre Geschichte, weil sie in Übersee stattgefunden hat.”

Und dieses „Übersee” wird vorwiegend immer noch im Hinblick auf seine Abweichung von einer idealtypisch gedachten unilinearen westlichen Modernisierung betrachtet. Ein ziemlich enger Blick, findet Randeria, denn: „Die Gegenwart nicht-westlicher Gesellschaften ist nicht die Vergangenheit des Westens, und die Gegenwart des Westens ist nicht die Zukunft aller anderen Gesellschaften.”

Dass die traditionelle Trennschärfe zwischen den Disziplinen in einer sich rapide verändernden Welt nicht aufrecht zu erhalten ist, hat sich herumgesprochen. Shalini Randeria war und ist selbst aktiv beteiligt an Projekten, die den interkulturellen Dialog praktizieren wie z. B. das Programm German American Frontier of Social Science (GAFOSS), das sie in den Jahren 1998 und 1999 leitete. Zu den Konferenzen trafen sich Wissenschaftler aus sechs verschiedenen Fachrichtungen, die es wagten, das schützende Biotop der eigenen Disziplin zu verlassen: Die Arbeitsgruppen waren so organisiert, dass keiner der Teilnehmer vor den eigenen Fachkollegen referieren konnte.

Auch im Projekt „AGORA. Arbeit – Wissen – Bindung” am Wissenschaftskolleg geht es darum „neue Forschungsfelder zu erschließen”. Insgesamt verläuft der Grenzverkehr zwischen den Fächern noch zähflüssig, insbesondere an deutschen Universitäten. Doch die Disziplinen sind nicht mehr homogen. „Afrika- oder Osteuropahistoriker verstehen sofort, dass eine transnationale Geschichtsschreibung notwendig ist”, freut sich die Grenzgängerin über den zarten Silberstreif am Horizont. Auch bei den Wissenschaftsorganisationen gibt es inzwischen eine Tendenz, Projekte zu fördern, die den traditionellen Rahmen verlassen.

Wie schwer es aber noch ist, die Sozial- mit der Rechtswissenschaft zusammenzubringen – zumal bei einem internationalen Gegenstand –, erfuhr Randeria, als sie zusammen mit dem Rechtsphilosophen und Strafrechtler Prof. Dr. Klaus Günther von der Universität Frankfurt/ Main die Finanzierung eines Konferenz- und Publikationsvorhabens „Recht und Kultur in der Globalisierung” beantragte. „Die Gutachtergremien sind weder interdisziplinär noch international besetzt”, bedauert Randeria. Das Begutachtungsverfahren zog sich hin.

In ihrer Habilitation zur Bevölkerungspolitik in Indien zeigt sie, warum aber gerade diese Art der Zusammenarbeit so wichtig ist. In Indien haben internationale Organisationen erheblichen Einfluss auf privatrechtliche Dinge, auf intimste Entscheidungen in Familien. Die staatliche amerikanische Entwicklungshilfe-Organisation USAID fördert in Indien z. B. keine bevölkerungspolitischen Projekte, in denen Abtreibung erlaubt ist. „Für Deutsche gilt deutsches Recht. Das gilt nicht für Indien”, beschreibt die Wissenschaftlerin einen für uns unvorstellbaren Zustand. Shalini Randeria sieht hier auch die Schnittstelle zur Politik. Selbst in zahlreichen Projekten aktiv, die wissenschaftliche Theorie und politische Praxis zusammenbringen, ist ihr die politische Abstinenz vieler ihrer Kollegen fremd. „In Indien war es undenkbar, die Arbeit als Sozialwissenschaftlerin nicht mit politischen Engagement zu verbinden”. Hier zu Lande kann solches Engagement rufschädigend sein. „Schnittstellen sind immer riskant”, weiß die Frau, die eine Grenze sehr erfolgreich überschritten hat: Nach dem Studium in Delhi ging sie 1977 für drei Jahre mit einem Rhodes Scholarship nach Oxford. Von dieser Förderung hatte der Stifter Cecil Rhodes Frauen ausdrücklich ausgeschlossen. Der entsprechende Passus im Testament musste vom britischen Parlament zu Gunsten weiblicher Bewerberinnen außer Kraft gesetzt werden.

In der europäischen Wissenschaft macht man Indien zum Entwicklungsland, dessen Computerspezialisten man mit Greencards anwerben will, weil man sie zur Entwicklung der IT-Branche in Deutschland und England dringend braucht. Die Begriffe geraten durcheinander. „Da stimmt etwas nicht”, stellt sie amüsiert fest. „Im 21. Jahrhundert muss es uns gelingen, die wissenschaftliche Tradition des 19. Jahrhunderts zu überwinden.”

 
 
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