Stefanie Stallschus - Gombrich / Luhmann // Fortschritt / Evolution


Von Kunstgeschichte und Gesellschaftstheorie Man verfolgt die Idee vom Fortschritt oder überträgt die Evolutionstheorie auf soziale Vorgänge Man geht aus vom Lebensraum des Bildes oder von der Autopoiesis des Systems Man unterscheidet die Situation des Künstlers von der Logik des Systems
Die Hypertrophie der Stile oder: gewinnt die Evolution an Tempo? Ausblick auf die Bedeutung für die zeitgenössische Kunst Systemtheorie in der Kunstwissenschaft Literatur / Abbildungen

Der Romantiker Delacroix habe bewußt dem klassischen Ideal entsagt, da es sich für ihn in den Zeiten eines allgemeinen künstlerischen Verfalls als unerreichbar darstellte. Aus diesem Grunde habe er sich der Alternative eines bewegten und leidenschaftlichen Stils zugewandt, so daß er entgegen seiner subjektiven Absicht und seiner wachsenden Ablehnung das Ansehen eines fortschrittlichen Künstlers, gar eines Revolutionärs erwarb.

An dieser Stelle lohnt es sich, die beiden Autoren einmal an einem konkreten Beispiel festzulegen und zu vergleichen. Um Gombrichs Behauptung zu unterfüttern und sie zudem anschaulicher zu machen, seien hier einige Zitate Delacroixs angeführt. So schreibt er 1850 in sein Tagebuch: "Das Schöne kommt nur einmal und in einer bestimmten Epoche vor. In den Zeiten des Verfalls haben nur die unabhängigen Genies Aussicht, sich oben zu halten. Sie können ihr Publikum nicht zu dem alten guten Geschmack zurückführen, den niemand verstehen würde; aber sie haben Genieblitze, die erkennen lassen, was aus ihnen in einer Zeit der Einfachheit geworden wäre. [...] Die Künste haben ihre Kindheit, ihre Männlichkeit und ihr Alter." Neben der Gegenüberstellung von einem klassischen Ideal und den Zeiten des Verfalls findet man auch eine organische, anthropozentrische Vorstellung von Entwicklung. Zu den Künstlern, die in einer einfachen, treffenden Art gearbeitet haben, gehören z.B. Corregio, Tizian, Vanloo, Ruysdael , und daneben werden als überragende Meister immer wieder Michelangelo, Raffael, Leonardo und Rubens erwähnt. 1857 notiert er: "Es sieht wirklich so aus, als ob die Meister des sechzehnten Jahrhunderts wenig zu tun übrigließen. Sie waren die ersten, die den Weg bis zu Ende gingen, und scheinen in allen Gebieten das Ziel erreicht zu haben; [...]" Für die modernen Künstler bedeutet das, daß sie ihren eigenen neuen Weg finden müssen, der jedoch die gegenwärtigen Errungenschaften nicht ignoriert. "Die Tatsache, daß Goethe bei seinem Genie sich die Fortschritte in der Kunst seiner Epoche nicht zunutze zu machen verstand, [...] reiht ihn unter die kleinen und originalitätssüchtigen Geister", so in einem Eintrag von 1846. Aber dieser Drang nach Fortschritt und Neuheit birgt auch seine Gefahren: "Es ist doch klar, daß der Fortschritt [...] die Gesellschaft augenblicklich an den Rand des Abgrunds gebracht hat [...] Und liegt nicht der Grund, der einzige Grund dafür in dem Gesetz, das alle andern auf Erden beherrscht, nämlich in der Notwendigkeit der Veränderung, wie immer sie beschaffen sei?" Und übertragen auf die Kunst bedeutet das: "Die dringende Notwendigkeit, etwas Besseres oder anderes als das Vorhandene hervorzubringen, eben sich zu ändern, in der er sich zu befinden glaubte, ließ ihn die ewigen Gesetze des Geschmacks und der Logik, welche die Kunst leiten, aus dem Auge verlieren." In diesen kurzen Auszügen findet man also die Auffassung Gombrichs bestätigt, daß sich der Künstler in seiner Reaktion auf die künstlerische Tradition und seiner Intention, einen eigenen Weg zu finden, nicht widerspruchsfrei verhält, aber genau hierin der Antrieb für die Weiterentwicklung künstlerischen Ausdrucks zu sehen ist.

Für den Augenblick sollen die Überlegungen des Künstlers zurückgestellt und einige Grundzüge der Luhmannschen Verwendung von Evolutionstheorie vorgestellt werden, so daß sie auf das oben beschriebene Beispiel angewendet werden können. Auch Luhmann sieht - wie Gombrich - die Voraussetzung für eine Entwicklung in der Kunst in ihrer Beobachtung, woraus ein Bedarf an Kriterien und Strukturen für Produktion und Rezeption entsteht. Im Gegensatz zum Fortschritt gibt es jedoch keine teleologische Struktur in den Operationen des Kunstsystems, denn die Evolution strebt nicht nach Verbesserung, ja nicht einmal nach Erhaltung des Systems. Grundlegend für die Beschreibung von Evolution ist, daß sie aus einer Abfolge von Evolutionsmechanismen heraus entsteht. Für eine angemessene Übertragung auf soziale Phänomene ist zu berücksichtigen, daß sich die Mechanismen in den Operationen des Systems beobachten lassen. Es macht kaum Sinn und bliebe banal, von einer Variation der Kunstwerke zu sprechen, vielmehr muß die evolutionär folgenreiche Strukturveränderung auf einer anderen Ebene angesetzt werden, nämlich auf der Ebene der variierenden Operationen, bspw. das am Kunstwerk orientierte Beobachten. Zu den Mechanismen zählt die Variation, also das Auftreten neuer Operationen, das immer aus einem stabilen Zustand heraus erfolgt. Deshalb gibt es für die Evolution auch keinen trendgebenden Ursprung; sie ermöglicht sich selbst. Selektion meint die Wiederholung oder Zurückweisung von Operationen und anschließend kommt es zu einer (Re-) Stabilisierung des Systems.

Zurück zu dem Beispiel von oben. Daß der Künstler Delacroix als Modernist wahrgenommen wird, obwohl seine künstlerische Auffassung einer anderen Quelle entspringt, spricht - mit Luhmann im Hinterkopf - zunächst nur dafür, daß das Kunstsystem unabhängig von den Intentionen einzelner Individuen operiert und eigene Kriterien bereitstellt. Delacroix und Ingrès sind zwei Beispiele für die Variation der Operation "Beobachtung", die auf verschiedene Trends verweisen. Beiden Auffassungen des am Kunstwerk orientierten Beobachtens liegt die Reflexion des systemischen Gedächtnisses zu Grunde. Und auch wenn sich die beiden Stile, Klassizismus und Romantik, antipodisch gegenüberstehen, beinhalten beide eine vergleichbare, moderne Perspektive: Der Klassizismus erweckt mit der Inszenierung eines zeitlosen Ideals die Tradition zum Leben, in der sich die Künstler selbst mit ihrem Werk zu Wort melden.

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