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EinleitungDer Titel klingt bedrohlich. Er greift indes nur einen, wenn auch besonders spektakulären Aspekt des Untertitels auf: die steigende Anzahl von Selbsttötungen mit zunehmendem Alter. Offenbar wissen nicht alle Menschen, was sie mit den zahlreichen "gewonnenen Lebensjahren" anfangen sollen. Gewonnene Jahre sind nicht automatisch erfüllte Jahre. Wir müssen sie schon selbst zu solchen machen.Schon nach diesen wenigen Sätzen dürfte klar geworden sein, dass es Historische Demographie nur sehr am Anfang mit Zahlen, Prozentwerten, Statistiken zu tun hat. Es geht immer um Menschen: junge, alte, sehr alte, bei uns und anderswo, in Geschichte und Gegenwart. Der öffentliche Abendvortrag möchte einige Quintessenzen aus einem Vierteljahrhundert eigener Forschung und Lehre in Historischer Demographie ausbreiten. Hierbei könnten die folgenden Hinweise nützlich sein. Als Mikrogeschichte hat Historische Demographie viel mit Landesgeschichte zu tun, ganz so, wie es das Kolloquiumsthema suggeriert. Was aber, wenn - wie in meinem Fall seit der Berufung von Giessen 1973 an die Freie Universität Berlin - Landesgeschichte aufgrund der Mauerisolierung nicht mehr existierte, die Kirchenbuch- und sonstigen Lokalarchive der Umgebung unerreichbar waren? Da blieben nur, wie im Hinblick auf die Schwalm und die dort angesiedelten Verlorenen Welten der Johannes Hoosse, anderweitig gut aufbereitete Materialien (zum Beispiel Ortssippenbücher), oder aber - man verzeihe das überhebliche Wort - gleich die grosse weite Welt.
Quintessenzen der Historischen DemographieLetzteres führte im Laufe der Jahre immerhin dazu, dass mir die Augen aufgingen für Wesentliches, oder - wie es oben hiess: für Quintessenzen der Historischen Demographie. Dazu gehören, pointiert formuliert:
2. Erstmals ein Leben vom Ende her: das Konzept vom Lebensplan 3. Wir leben nicht nur länger - wir sterben auch länger. Brauchen wir eine neue Ars moriendi? 4. Von der schlechten alten Zwangsgemeinschaft zum guten neuen Single 5. Die Entwicklung hin zum Ausleben der Lebenshülse ist keine Einbahnstrasse 6. Wir stehen in vorderster Stelle einer Entwicklung - und der Rest der Welt folgt uns nach 7. Was alle angeht, müssen auch alle verstehen
Eine WWW-Aufbereitung ist kein Dia-AbendvortragVorträge habe ich während meiner Berufsjahre viele gehalten, Vorlesungen jedoch keine. Menschen sind meines Erachtens "Augentiere". Wir nehmen bis zu achtzig Prozent unserer Erkenntnisse über die Augen wahr. So basierten Lehrveranstaltungen, Seminare, Kurse, Vorträge stets auf Diapositiven. Anhand von Graphiken, Figuren, Illustrationen, Bildern versuchte ich, Wesentliches auf den Punkt zu bringen und die Projektionen in freier Rede zu erläutern. Im Laufe eines Vierteljahrhunderts entstand so eine Sammlung von rund 10'000 Dias. Passende Stücke wurden für jede einzelne Veranstaltung massgeschneidert zusammengestellt. Ein Beispiel dieser Uralttechnik ist der Abendvortrag. Mangels technischer Ausrüstung vor Ort waren die alten Diabestände nochmals zu sichten.Wie ein Geschenk des Himmels tauchte vor wenigen Jahren die CD-ROM-Technologie auf. Umgehend wurden die immer wieder benötigten Dias in Portionen von 100 Stück auf CDs digitalisiert. Dies wiederum erleichterte nach dem fast gleichzeitigen Eintreffen des zweiten Geschenks des Himmels die Umsetzung von Lehrveranstaltungen, Vorträgen, Kursen im Internet. Allerdings ist das hiermit in die Wege geleitete Teleteaching und Distancelearning etwas anderes als das passive Aufnehmen eines Diavortrags. Interaktiv meint in diesem Zusammenhang vor allem aktiv. Dies sei anhand unseres Themas an einigen Beispielen erläutert.Wer sie sorgfältig durcharbeiten will, braucht allein hierfür schon mehrere Stunden. Mit Links versehene Webseiten sind geballte Ladungen.
CD-ROM und WWW
Die CD-ROM Historische Demographie enthält neben einer Einführung in die Disziplin sowie einer umfangreichen Bibliographie vor allem die Quintessenz aus einem Vierteljahrhundert eigener Forschung und Lehre auf diesem Gebiet. Ihr sind denn auch die meisten der im folgenden aufrufbaren Illustrationen entnommen. - "Wolken-Malerei-Geschichte" versucht die Umsetzung des Konzepts vom Lebensplan anhand eines konkreten Beispiels.
Lebenssattheit
Dieses eine Beispiel möchte auch verdeutlichen, wie sehr einem das WWW Forschung und Lehre erleichtern kann, vorausgesetzt, man weiss, wo und wie man sucht. Oder wer würde nicht dankbar zur Kenntnis nehmen, dass sich die früher gelegentlich zeitraubende Suche nach einem Tagesheiligen in der historisch-demographischen Votivtafel-Forschung mittlerweile auf das Starten der richtigen Such-Hilfe beschränkt.
Quellen, Forschungen, Publikationen zur Historischen Demographie: das Beispiel Schweden
So komfortabel geht es hierzulande zwar (noch) nicht zu. Doch gibt es auch bei uns eine rasch wachsende Zahl von Hilfestellungen im Netz, worauf in der WWW- Betreuung der CD-ROM Historische Demographie kontinuierlich hingewiesen wird. So ist das bis 1996 nachgeführte Online-Verzeichnis von Ortsfamilienbüchern (Ortssippenbüchern) gewiss von Nutzen. Auch scheint es mir töricht, den Eifer deutscher beziehungsweise deutschstämmiger Genealogen ausser Acht zu lassen. Wir vergeben uns nichts, wenn wir ihre Suche nach den Wurzeln aufmerksam verfolgen. Als Einstieg eignet sich hierbei der deutsch gespiegelte Genealogie Server (Giessen) sowie die stark frequentierte Newsgroup Deutsche Genealogie. Und was die Publikationen in unserem Fach betrifft, so lohnt eine Recherche im Virtuellen Katalog (Karlsruhe, für Bücher), in JASON (Bielefeld, für Artikel) oder in H-DEMOG allemal.
Demographie weltweit
Das WWW begnügt sich indes nicht mit der globalen Online-Vermittlung einer Fülle demographischer Informationen. Auch die darauf basierende Wissensvermittlung, die Publikation von Forschungsergebnissen, von strittigen Gesichtspunkten und Interpretationen erfolgt online und kann folglich über entsprechend spezialisierte Search-Engines gezielt recherchiert werden (neben den üblichen Stichwort- und thematischen Suchhilfen zum Beispiel New Jour [The Internet List for Journals and Newsletters available on the Internet]). Als Goldgruben besonderer Art erweisen sich darüber hinaus immer mehr die Volltext-recherchier- beziehungsweise downloadbaren Fachorgane. Zwei besonders eindrückliche Beispiele seien aufgeführt:
Sieben Punkte
Doch kommen wir zum Abendvortrag zurück. Weiter oben wurde versprochen, die sieben Quintessenzen aus einem Vierteljahrhundert eigener Forschung und Lehre in Historischer Demographie, so wie ich sie verstehe und betrieben habe, der Reihe nach einzeln kurz - exemplarisch - anzusprechen. Ebenfalls erwähnt wurde bereits, dass diese Ausführungen und insbesondere die Illustrationen im wesentlichen der CD-ROM Historische Demographie entnommen sind, die in einem sehr viel weiter ausholenden Rahmen dieselbe Thematik behandelt. Andere Bereiche wurden im Rahmen von Teleteaching oder Online-Vorträgen und -Publikationen bereits ausführlich im WWW behandelt, so dass hier das Legen entsprechender Links genügt. Im Web braucht nicht alles drei- und viermal dargelegt zu werden.Um die Online-Übertragungszeiten in vertretbaren Grenzen zu halten, sind sämtliche Illustrationen relativ stark komprimiert (erstellt an einem 17"-Monitor mit der Auflösung 1024x768x65k Farben). Wem die hieraus resultierende Qualität zu gering ist, möge direkt auf die CD-ROM zurückgreifen. Dort findet sich auch eine Einbettung in grössere Zusammenhänge (inklusive Literaturangaben, Querverweise usw.). Die hier aufrufbaren Illustrationen sind sozusagen die mit knappsten Legenden versehenen Dias des Abendvortrags.
1. Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit - und die Folgen
Das Haus des Lebens vor 500 Jahren und heute: Fokussierung und Anhebung der Sterbealter auf die doppelte und dreifache Höhe |
Quintessenz: Erstmals können die meisten von uns das Leben weitgehend zu Ende leben. Die gewonnenen Jahre sind indes nicht automatisch erfüllte Jahre. Sie werden das nur durch eigene Anstrengungen. Ein diesbezüglich entwickeltes Konzept vom Lebensplan berücksichtigt, dass viele von uns mittlerweile nicht nur das Dritte, sondern auch das Vierte Alter erreichen. Die körperlichen Möglichkeiten nehmen in diesen späten Jahren vielfach früher ab als die geistigen, sofern sie ein Leben lang trainiert wurden. Das Motto des Lebensplans könnte lauten: |
Menschsein heisst, die von Anfang an in uns angelegte Spannung zwischen Werden, Sein und Vergehen zu akzeptieren, auszuhalten und aushaltend zu gestalten sowie den uns von Natur gegebenen Tod zur rechten Zeit auf uns zu nehmen. |
Quintessenz: Im Zuge der epidemiologischen Transition wurden die seuchen-, hunger- und kriegbedingten Infektionskrankheiten mehr und mehr unter Kontrolle gebracht und als Todesursachen zurückgedrängt. Chronische Leiden traten an die Stelle. Das Leben wurde damit im allgemeinen zwar sicherer und länger, aber ebenso dehnte sich der Sterbeprozess aus. Häufig müssen wir uns nun über Monate und Jahre physisch und psychisch mit dem Sterben auseinandersetzen. - Vor fünfhundert Jahren hatten unsere Vorfahren eine ihren Umständen entsprechende allgemeinverständliche Kunst des Sterbens entwickelt. Eine unseren gewandelten Umständen angepasste neue Kunst des Sterbens könnte der Maxime folgen: erfüllt leben - in Gelassenheit sterben. Diese den Lebensplan realisierende Ars vivendi würde so zu einer zeitgemässen neuen Ars moriendi.
Quintessenz: Eine so gut wie dauernd vorhandene Existenzbedrohung durch "Pest - Hunger - Krieg" zwang unsere Vorfahren, sich aus Überlebensgründen zu Gemeinschaften zusammenzutun. Mit dem Wegfall der Dauerbedrohung (bei uns spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges) lockerten sich verständlicherweise auch die alten Zwangsgemeinschaftsbande. Wer will, kann sich heute "selbstverwirklichen" - und immer mehr Männer wie Frauen nutzen die Chance. Aus Überlebensgründen braucht heute kaum noch jemand in einer Gemeinschaft zu kuschen. Etwas ganz anderes ist, dass auch nach dem Wandel von Gemeinschaft zu Gesellschaft Singles ihren Mitmenschen gegebenüber Pflichten haben und sie diese sogar vielfach besser wahrnehmen können als gemeinschaftsgebundene Zeitgenossen.
Quintessenz: Wer wüsste besser als Historiker, dass noch keine Zustände in der Geschichte - gut oder schlecht - ewig dauerten. Wenn der Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit auf dem Zurückdrängen von "Pest - Hunger - Krieg" beruht, "Pest - Hunger - Krieg" jedoch nicht vom Erdboden verschwunden sind, dann ist der Wandel auch reversibel. Alte Pestilenzen können (bei zunehmender Impfmüdigkeit) wieder aufflammen, neue (AIDS) hinzukommen; Hunger gibt es nach wie vor auf der Welt, und Kriege zu Dutzenden. Manchmal nähern sie sich auch uns schon wieder bedrohlich (ehemaliges Jugoslawien). Wir sind alle in der Pflicht, dazu beizutragen, den bei uns erreichten Zustand zu erhalten und auszubauen.
Quintessenz: Historische Demographie ist nutzanwendungsverdächtig. Wem sollte man es in Schwellen- und Entwicklungsländern verdenken, wenn sie von uns wissen wollen, wie wir die Infektionskrankheiten unter Kontrolle gebracht, das durchschnittliche Sterbealter fokussiert und verdoppelt sowie ein gesichertes langes Leben für quasi alle erreicht haben? Die demographische, epidemiologische und gesundheitliche Transition zu erläutern und zu begründen ist nicht einfach, aber möglich. Ob es uns andere dann nachmachen wollen, ist deren Sache. Doch sollten wir ihnen gegenüber nicht verschweigen, dass alle Medaillen zwei Seiten haben. Wir befinden uns nach dem Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit keineswegs in einem irdischen Paradies, sondern haben vielfach alte Probleme gegen neue getauscht. Wer uns folgt, wird das genauso tun.
Quintessenz: Es war in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, als aufgrund wiederkehrender seuchenbildender Infektionskrankheiten viele Menschen gleichzeitig und folglich manche allein starben. Nach damaliger Auffassung entschied sich das Seelenheil oft erst in letzter Minute auf Erden. Die Mächte der Finsternis würden noch einmal alles daransetzen, um der bald aus dem Körper weichenden Seele habhaft zu werden. Mangels genügender Sterbebegleiter musste in jenen Tagen folglich jeder schon möglichst früh im Leben lernen, auch allein gut zu sterben. Wir können noch heute pädagogisch-didaktisch eine Menge davon lernen, wie diese schwierige Lektion unseren leseunkundigen Vorfahren beigebracht wurde (vgl. nochmals Punkt 3 oben zur Bilder-Ars: ) : was alle angeht, müssen auch alle verstehen. Wir stehen vor derselben Situation: Lebensplan, Ars vivendi als Ars moriendi, erfüllt leben - in Gelassenheit sterben: auch dies muss jeder und jede für sich realisieren. Wir (Lehrenden) sollten uns nicht zu fein sein, so zu reden und (im WWW) zu veröffentlichen, dass man uns versteht, selbst wenn wir dabei den Elfenbeinturm verlassen und dafür kritisiert werden.
Wer noch mehr vom Autor wissen möchte: bitte schön !
© A. E. Imhof 1997 |