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Betrifft: Neuerscheinung

Die Zunahme unserer Lebensspanne
seit 300 Jahren und ihre Folgen

Hier:

Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben -
Symposium vom 23.-25. November 1993
an der Freien Universität Berlin

Hand-out zur Kurzorientierung


Seit 1986 erforscht ein Arbeitsteam unter der Leitung des Historikers Professor Arthur E. Imhof von der Freien Universität Berlin die Entwicklung der Lebenserwartungen während der letzten vier Jahrhunderte. 1986-1990 erfolgte die Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1990-1994 durch das Bundesministerium für Familie und Senioren, das auch die Finanzierung dieses Symposiums übernommen hat.

Die wichtigste Quellengrundlage in diesem Rahmen bilden die Kirchenbücher, gefolgt von den Angaben der Standes- sowie der Statistischen Ämter. Da Skandinavien weltweit über das beste und am weitesten zurückreichende Quellenmaterial verfügt, werden grosse Datenbankbestände aus Schweden und Norwegen zum Vergleich herangezogen. (Zahlreiche kommentierte und mit Literaturangaben versehene Beispiele liegen mittlerweile auf einer CD ROM Historische Demographie I vor.)


Fakten

  • Während der letzten vier Jahrhunderte hat unsere biologische Lebenserwartung kaum zugenommen. Vor 400 Jahren konnten 80jährige mit knapp, heute mit gut fünf weiteren Lebensjahren rechnen. Die sogenannte mittlere maximale Lebenserwartung des Menschen scheint bei etwa 85 bis 90 Jahren zu liegen.
  • Spektakulär zugenommen hat dagegen die Zahl der Menschen, die ein immer grösseres Stück der ihnen von Natur aus eigentlich zustehenden Lebensspanne zu Ende leben können. Vor vier Jahrhunderten lag das durchschnittliche Sterbealter bei etwa 30, heute bei zwischen 70 und 80 Jahren. Seinerzeit zog die enorme Säuglingssterblichkeit den Durchschnitt stark nach unten. Etwa 25 Prozent aller Neugeborenen verstarb vor Vollendung des ersten Lebensjahres (heute weniger als 1 Prozent). Im Alter von einem Jahr hatten die bis dahin Überlebenden rund 40 Jahre vor sich. Erwachsene mit 25 Jahren blieben im Durchschnitt bis 60 am Leben. Allerdings erreichte nur die Hälfte überhaupt je das Erwachsenenalter. Anders ausgedrückt: Es brauchte zwei Geburten, um einen Erwachsenen zu ersetzen.
  • Ältere Menschen über 60 gab es zwar auch, aber relativ selten. Die in früheren Zeiten angeblich weitverbreitete Grossfamilie ist ein Mythos; die Frage, wie frühere Generationen mit ihren älteren und alten Menschen umgingen, folglich eine wenig relevante Frage. Auf der Basis von ein paar Ausnahmen lassen sich keine Gesetzmässigkeiten ableiten.
  • Der mittlerweile eingetretene fundamentale Wandel von der unsicheren zur sicher(er)en Lebenszeit aufgrund der Zurückdrängung von "Pest, Hunger und Krieg" führte zu einer nie dagewesenen Standardisierung der Sterbealter auf hohem Niveau. Manche Zeitgenossen stossen heutzutage bereits gegen ihre Lebenshülse vor, andere (Professionelle wie Laien) versuchen schon, den Tod zur rechten Zeit zu verhindern, was in begrenztem Ausmass technisch durchaus machbar ist.
  • Es ist nicht abwegig zu behaupten, dass unsere Gesamtlebenserwartung in den vergangenen Jahrhunderten keineswegs zu-, sondern unendlich abgenommen hat. Noch vor wenigen Generationen glaubten wohl die meisten unserer Vorfahren an Auferstehung und ein ewiges Leben. Zwar haben wir inzwischen die Zahl unserer Jahre auf Erden verdoppelt und verdreifacht, gleichzeitig indes vielfach den Glauben an die Ewigkeit verloren. Das Bruchstück hienieden ist alles, was uns blieb: ein vergleichsweise dürftiger Rest. Das kollektive lange Gedächtnis sorgt jedoch dafür, dass die meisten von uns noch wissen, was wir da erst in jüngster Zeit eingebüsst haben.


Ursachen

  • Die derzeitige Bündelung unserer Sterbealter auf hohem Niveau ist bedingt durch die gegenwärtige Bändigung der jahrhundertealten Geisseltrias "Pest, Hunger und Krieg". Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges leben wir in einer historisch wie weltweit gesehen abnormen Situation. Dies bedeutet, dass die Situation jederzeit auch wieder umschlagen kann. Manchmal nähern sich vor allem "Pest" (AIDS) und "Krieg" schon wieder bedrohlich. Die in Berlin während der letzten Jahre betriebene Forschung förderte genügend Beispiele zutage, wonach die Entwicklung der Lebenserwartung auch schon in vergangenen Zeiten immer wieder stagnierte oder vorübergehend rückläufig war.
  • Ebenso ist die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Lebenserwartung keineswegs nur biologisch bedingt, sondern immer auch kulturell überformt. Der gegenwärtig sechs- bis achtjährige Abstand zwischen Männern und Frauen verringert sich im fortgeschritteneren Skandinavien denn auch bereits wieder.


Folgen

  • In früheren Jahrhunderten war die irdische Lebensspanne meist mehr oder weniger kurz, in aller Regel jedenfalls wesentlich kürzer als heute. Kürzer war damals allerdings auch das Sterben, da die Mehrzahl der Menschen von rasch tötenden Infektionskrankheiten dahingerafft wurde. Die chronischen Krankheiten, an denen wir heute überwiegend sterben, erhielten erst durch die Zurückdrängung der Infektionskrankheiten ihre Chance. Wir leben im allgemeinen nun zwar länger, sterben meist aber ebenfalls länger. Wir müssen uns physisch und psychisch mit dem Sterbeprozess auseinandersetzen.
  • Zunahme der Lebenserwartung ist nicht dasselbe wie Zunahme der Lebenserwartung bei guter Gesundheit. Je länger wir nun am Leben bleiben, umso grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir zuerst hilfs-, dann pflegebedürftig werden, alles noch bevor man uns möglicherweise institutionalisiert und wir schliesslich sterben. In mehreren industrialisierten Ländern nimmt nur die Lebenserwartung zu, während die Gesundheitserwartung gleichzeitig stagniert.
  • Männer leben zwar nicht so lange wie Frauen, doch unterscheidet sich ihre Lebenserwartung bei guter Gesundheit nicht wesentlich von derjenigen der Frauen. - Welches Geschlecht hat nun das bessere Los gezogen?
  • Durch die Reduzierung der Lebensspanne auf den irdischen Rest hat der Körper als Vehikel des Lebens eine ungeheure Aufwertung erfahren. Statt Kathedralen wie unsere Vorfahren errichten wir nun beeindruckende Krankenhäuser voll von High-tech-Medizin. Statt Priester haben wir "Götter in Weiss". Unseren Wünschen gemäss sorgen sie äusserst effektiv dafür, dass wir uns erstmals "mit einem gewissen Recht" zumindest in unseren besten Jahren "ein bisschen unsterblich" fühlen dürfen. Gedanken an Sterben und Tod werden leicht verdrängt, die Jugend verherrlicht, denn sie ist am weitesten vom trotz allem sicheren Ende entfernt.
  • Aufgrund des ehedem quasi permanenten "Pest, Hunger und Krieg"-Zustands waren unsere Vorfahren gezwungen, in Gemeinschaften wie zum Beispiel Familien, Haushalten, Kloster- oder Militärgemeinschaften zusammenzuleben. Niemand konnte allein auf sich gestellt durchs Leben gehen. Nach dem Entfallen von "Pest, Hunger und Krieg" sind wir das erstmals nicht mehr. Darüber hinaus ist es den meisten möglich, sich auf dem Versorgungs- und Dienstleistungssektor reichlich einzudecken. Als logische Konsequenz hieraus macht eine immer grössere Zahl von Männern wie Frauen von dieser erstmals realisierbaren Chance Gebrauch und bleibt Single. Allenfalls gehen sie zur Befriedigung verschiedenster Bedürfnisse - Reisen, Tennisspielen, Sex - eine Teilzeit-Gemeinschaft ein. Singles sind indes häufig weder jene Sunnyboys noch Sunnygirls, die nur nach Hedonismus und Selbstverwirklichung streben. Vielmehr widmen sie sich ganz neuen Aufgaben, an denen es weder in unserer Gesellschaft noch weltweit mangelt und die von gemeinschaftsgebundenen Zeitgenossen so nicht wahrgenommen werden können.
  • Da unsere Vorfahren überwiegend an seuchenbildenden Infektionskrankheiten mit stets einer Vielzahl von gleichzeitigen Opfern starben, gehörte das Alleinsterben früher zum Alltag. Die wenigen Priester reichten als Sterbebeistand bei weitem nicht für alle aus. Unsere Vorfahren zogen aus der misslichen Situation jedoch die Konsequenzen, indem sie schon ab jungen Jahren das Alleinsterben anhand von allgemein verständlichen Holzschnitten lernten.
  • Heute befinden wir uns in einer ähnlichen Situation. Viele unter uns werden in ihrer letzten Stunde ebenfalls allein sein. Doch wer lehrt uns sterben?


Folgerungen

  • Stand das Symposium 1991 thematisch noch unter der irritierenden Frage: "Leben wir zu lange?", so bemüht sich die jetzige Veranstaltung unter dem programmatischen Titel "Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben" um eine konkrete Antwort darauf. Wir leben nicht zu lange, sofern und so lange wir wissen, was wir mit all unseren gewonnenen Jahren anfangen sollen.
  • Leben meint, die in uns angelegte Spannung zwischen Werden, Sein und Vergehen zu akzeptieren, auszuhalten und aushaltend zu gestalten. Dazu gehört auch, dass wir bereit sind, den Tod zur rechten Zeit auf uns zu nehmen. Eine neue "Kunst des Sterbens" läuft somit auf eine "Kunst des Lebens" hinaus, dies umso mehr, als es für die meisten eine Fortsetzung in einem Jenseits nicht mehr gibt. Es kommt somit alles darauf an, das Leben so zu leben, dass wir es am Ende gelassen und ohne Torschlusspanik hergeben können. Alles erfolgte zu seiner, zur rechten Zeit.
  • Heute können wir unser Leben erstmals von einem relativ kalkulierbaren Ende her leben. Wir haben doppelt so viele Jahre zu unserer Verfügung wie unsere Vorfahren (und viele Menschen in der Dritten und Vierten Welt), weil wir doppelt so gute Jahre haben wie sie. Ist es so wenig, nun im Durchschnitt zwei Leben zu haben? Es gilt, das beste aus allen Jahren zu machen, das Leben ab dem jungen Erwachsenenalter zielorientiert zu gestalten, gemäss einer Art "Lebensplan" von Anfang an auch kulturelle, geistige, musische Interessen zu pflegen, um so an allen Stufen menschlichen Lebens Geschmack zu finden. Niemand braucht in eine entsetzliche geistige Leere zu stürzen, wenn im Vierten Alter (jenseits etwa von 75) die körperlichen Kräfte vor den geistigen nachlassen.
  • Diese "Kunst des Lebens" als Vollzug eines "Lebensplans" wendet sich folglich in erster Linie an junge Menschen, an solche, die ein ganzes langes Leben erstmals mit relativ grosser Gewissheit noch vor sich haben. Heutige Menschen im Dritten und Vierten Alter hatten diese Chance nie. Sie schufen uns den Wohlstand und damit das lange Leben, das wir nun angemessen zu verwalten haben. Sonst ist es schade um die vielen Jahre und um die ganze Entwicklung, um die man uns weltweit beneidet.

Arthur E. Imhof