Jahrzehntelang war die ,,größte Maschine der Welt``, also
das Telefonsystem, eine verhältnismäßig überschaubare
Sache: Sie basierte auf einem zwar in sich komplexen, aber jeweils
national einheitlichen technischen Standard und stellte eine aus
heutiger Sicht wenig komplexe Leistung her, die Übertragung von
Sprache von Punkt zu Punkt (POTS, plain old telephone service).
Ihre Binnenkomplexität resultierte daraus, daß sie - dem
Paradigma des one-to-one folgend - Verbindungen von jedem
Endpunkt zu jedem anderen herstellen mußte. Die technische Basis
(Vermittlungsstellen, Kabel, Endgeräte, Übertragungsprotokolle),
die ökonomische Institutionalisierung (in den jeweiligen Post-
und/oder Telefonunternehmen) und die soziale Verwendung (also durch
Dritte) bildeten praktisch ein einheitliches, großes
System
. Diese Einheit ist zerfallen und zerfällt
weiter: Telefonsysteme werden zunehmend zur Übertragung von Daten
verwendet; Telefonunternehmen werden aufgeteilt (so der amerikanische
Monopolist ATT im Jahre 1984), aus dem staatlichen Monopolbereich
entlassen und bekommen Konkurrenz; Telefontechnik wird digital und
steigert damit ihre Komplexität; das einheitliche Telefonnetz wird
zum Netzwerk der Netze: Die neuen Funktelefonnetze und das ISDN sind nur
zwei Beispiele. Die Digitalisierung der
Telekommunikationstechnik befördert einen (weiteren)
Differenzierungsschub für die
Telekommunikationsnetze. Dabei überlagern sich - wie zu
sehen sein wird - Tendenzen der Netzintegration mit denen der
Netzdifferenzierung.
Traditionell war zwar die inhaltliche Nutzung der Netze nicht
determiniert, die Netzanbieter also - in der Sprache der amerikanischen
Telekommunikationsregulierung - common carriers, die einen
universal service boten; praktisch jedoch eigneten sich die Netze
lange Zeit ausschließlich zur Sprachübertragung. Mit der
Digitalisierung ist die Nutzungsform, also die soziale Einbettung
der Netze durch Einschränkung ihrer Nutzbarkeit, nicht länger
technisch determiniert; die Netze stellen nur noch jeweils eine
(technisch/sozial) definierte Schnittstelle zur Verfügung, die der Nutzer in definierter Weise
ansprechen kann, um eine Punkt-zu-Punkt-Verbindung zu einem anderen
,,Netzabschlußpunkt`` (so bspw. die ISDN-Terminologie der
Deutschen Telekom) zu erhalten. Diese verbindungsorientierte
Arbeitsweise und die damit verbundene zeit- und
entfernungsabhängige Abrechnung von Einzelverbindungen erschien
zu Zeiten einheitlicher, analoger Technik zwingend, ist es im digitalen
Zeitalter aber nicht mehr: Arbeitsweise und Abrechnung werden sozialen
(wirtschaftlichen, politischen) Entscheidungen zugänglich.
In einem digitalen Netz können Verbindungen von Punkt zu Punkt (auch)
virtuell realisiert werden, also ohne daß
tatsächlich eine dedizierte physikalische Verbindung
zwischen den beiden Endpunkten besteht. Es ist leicht einzusehen,
daß solche virtuellen Verbindungen billiger als ihre physikalischen
Äquivalente herzustellen sind. Um diese neue Ökonomie des
digitalen Telefonsystems zu verstehen, lohnt sich ein Ausflug in die
abstrakten Spezifikationen der Netzwerktechnik.
Die Vernetzung von Computern stieß von Anfang an auf
diffizilere Probleme als die Vernetzung von Telefongeräten. Bereits
die eher ungewöhnlich erscheinende Sprechweise ,,Vernetzung von
Telefongeräten`` weist darauf hin, daß diese Endgeräte
im Gegensatz zu Computern im allgemeinen für keinen anderen
Zweck als den der Vernetzung selbst gebaut wurden (und im allgemeinen
auch noch werden). Um zwecktauglich zu sein, mußten sie also das
(einheitliche) Telefonprotokoll beherrschen. Computer dagegen dienen
vielen Zwecken; die Vernetzung zum Zwecke der
Kommunikation ist auch heute in
der Regel nur einer von vielen. Es ist nachgerade der Zweck von
Computern, multiplen Zwecken dienen zu können
.
Schicht 7 | application layer | Anwendung |
Schicht 6 | presentation layer | Datendarstellung |
Schicht 5 | session layer | Kommunikationssteuerung |
Schicht 4 | transport layer | Datentransport |
Schicht 3 | network layer | logisches Netzwerk |
Schicht 2 | data link layer | Übertragungssicherung |
Schicht 1 | physical layer | physikalisches Netzwerk |
Als die Vernetzung begann, über den lokalen Raum der local
area networks (LANs) hinaus zu wachsen,
war keiner der zur Kommunikation notwendigen Bestandteile standardisiert:
Computer waren und sind an verschiedene physikalische Netzwerke
(Schicht 1) angeschlossen, die auf unterschiedliche Weise die
Integrität (2) der physikalischen Übertragung
sicherstellen. Diese Netzwerke sind zu diversen logischen (3)
Netzwerken zusammengeschlossen, durch die eine
Punkt-zu-Punkt-Verbindung (4) zwischen zwei Maschinen realisiert
werden kann, die nicht an dasselbe physikalische Netzwerk angeschlossen
sind (oder vielmehr: sein müssen). Wenn diese vier Probleme
gelöst sind, ist damit noch nichts über den Inhalt,
also die Anwendung (7) der Übertragung gesagt, die wiederum
auf Konventionen der Kommunikationssteuerung (5) und Datendarstellung (6)
angewiesen ist. Die Problemebenen 3 und 4 fanden ihre
historisch bislang erfolgreichste Lösung durch die
TCP/IP-protocol suite, die Basis des Internets (vgl.
ausführlicher Kapitel 3.1.3)
. Das
internet protocol (IP) beschreibt den Transport einzelner
Datenpakete zwischen eindeutig identifizierbaren Computern (genauer: ihren
Netzwerk-Schnittstellen). In den Worten des entsprechenden Standards:
,,The internet protocol provides for transmitting blocks of data called datagrams from sources to destinations, where sources and destinations are hosts identified by fixed length addresses.``![]()
Das transmission control protocol (TCP) stellt hingegen die Regeln für die Dauerhaftigkeit und Zuverlässigkeit der (virtuellen) Verbindung auf.
,,The TCP provides for reliable inter-process communication between pairs of processes in host computers attached to distinct but interconnected computer communication networks.``![]()
TCP greift dafür in definierter Weise auf die
Pakettransport-Leistungen von IP zu. IP selbst wiederum wird in (jeweils)
definierter Weise auf der Basis von Netzwerkprotokollen der Ebenen 1 und 2
realisiert. Dieser Redeweise liegt eine folgenschwere Abstraktion
zugrunde, die Aufteilung in Schichten der Computer- und
Netzwerkkommunikation. Jede Schicht stellt einen definierten Dienst
(service) zur Verfügung, auf den die nächsthöhere
Schicht in definierter Weise zugreifen kann. Dieser Dienst ist transparent, wenn er die
übermittelten Daten nicht verändert
.
Aus der Sicht der meisten heute im Internet gebräuchlichen
Anwendungen ist es effizient, daß die zugrundeliegenden Verbindungen
der TCP-Schicht auf Basis der verbindungslosen IP-Schicht
realisiert werden. Für eine TCP-Verbindung ist keine
Reservierung bestimmter Netzbandbreite oder gar bestimmter
physikalischer Verbindungen notwendig
. Basierend auf verbindungsloser
Paketvermittlung wird eine logische Verbindung hergestellt,
während physikalisch mehrere oder gar viele Verbindungen auf
einer Leitung verschachtelt werden.
TCP/IP läßt sich auch auf Basis von einfachen Telefonleitungen
(POTS) realisieren; die entsprechenden (und konkurrierenden) Varianten von
IP heißen SLIP (Serial Line Internet Protocol) und PPP
(Point-to-Point Protocol). Umgekehrt - und damit schließt sich der
Kreis - gibt es bereits in Ansätzen eine ganze Reihe von Anwendungen,
die die Funktionalität des Sprachtelefons auf der Basis von
TCP/IP abbilden.
Die Deutsche Telekom (vormals Bundespost) hat die Vorteile
paketvermittelter Netztechnik mit der stufenweisen Einführung
digitaler Vermittlungstechnik bereits seit den siebziger Jahren für
sich genutzt; die Weitergabe dieser Vorteile an den Endkunden
steht im Telefondienst bis heute aus: Mit der Gebührenumstellung zum
Jahresbeginn wurde zwar die Entfernungsabhängigkeit der
Kostenberechnung verringert - im Extremfall, wochentags zwischen zwei und
fünf Uhr, sogar fast völlig aufgehoben - die
Zeitabhängigkeit wurde jedoch weiter verschärft,
während eine Abrechnung nach übertragenen Datenmengen
noch nicht einmal im digitalen ISDN angeboten wird
.
Die vormals gegebene Bindung der Kommunikationstechnik an eine jeweils bestimmte Nutzungsform ist zerfallen. Nutzungsformen sind damit in bisher unbekannter Weise individuell gestaltbar. Die Komplexität des sozialen Systems der Telekommunikation (und des ,,darunter liegenden`` technischen Systems) läßt sich durch Techniken der Schichtung beliebig steigern. Auch die Verteilung der Rollen zwischen service provider und user wird fraglich und läßt sich allenfalls noch schichtspezifisch (im Sinne des OSI-Modells) bestimmen. Eine Einheit von Nutzung und Technik muß gleichwohl für die jeweils konkrete Nutzung hergestellt werden. Dies ist das Thema des folgenden Abschnitts: Interoperabilität.
Neben das traditionelle Telefonnetz (POTS) und die herkömmlichen
Mobilfunknetze (A- und B-Netz) sind in den vergangenen Jahren eine ganze
Reihe neuer Telekommunikationsnetze
getreten: Das C-Netz als erste, aber noch analoge Ergänzung zum
B-Netz; die beiden volldigitalen D-Netze, eines davon nicht im Besitz
des (Sprachdienst-)Monopolisten Telekom, und das E-Netz; inzwischen ist
Sprachübertragung auch in Corporate Networks
möglich; Unternehmen bauen mehr und mehr eigene
Kommunikationssysteme auf, die nicht vom Integrierten Text- und Datennetz
der Telekom (IDN) abhängen. Für die Zeit nach der Aufhebung des
Sprachmonopols der Telekom wird der Einsatz von DECT-Systemen zum
drahtlosen Anschluß der Haushalte geplant
.
Auf den ersten Blick könnte diese Entwicklung als ,,Desintegration,
Differenzierung und Fragmentierung der
Telekommunikation`` beschrieben werden. Doch geht dies am
Kern der Entwicklung vorbei. Denn die Tendenzen der Desintegration und der
Fragmentierung der Netze, die zweifelsohne mit ihrer
Differenzierung einhergehen, stehen in einem
Spannungsverhältnis zu ihrer Interoperabilität. Ein
Telefon wäre quasi wertlos, wenn mit ihm nur ein (möglicherweise
kleiner) Teil der Telefonbesitzer erreicht werden
könnte
.
Interoperabilität impliziert bereits auf der technischen Ebene die
Verwendung offener statt proprietärer (wörtl.:
eigentümlicher) Standards. Im wettbewerblich strukturierten
Wirtschaftssystem wird die Herstellung solcher Standards
unausweichlich politisiert, da sie sich nur schwer gegen Versuche
individueller Vorteilsnahme absichern kann. Das oben vorgestellte Schichten-Konzept
versucht, solche (unerwünschten) Interferenzen zu vermeiden, indem es
die Schnittstellen zwischen einzelnen Schichten vollständig
spezifiziert.
Dieses Problem hat es im Telefonbereich so nie gegeben: Die
Fernmeldetechnik unterscheidet zwischen Netzen und
Diensten, die über die Netze angeboten werden.
Gerade diese Unterscheidung wird aber in netztechnisch geschichteten
Umgebungen fließend: Ein service im OSI-Sinne kann im
Prinzip auf jeder Netzebene definiert und angeboten werden. Das
Fernmeldenetz ist hingegen lediglich auf den Ebenen 1 und 3
standardisiert (sofern die OSI-Terminologie überhaupt darauf
anwendbar ist); die darüberliegenden Standards sind nicht technische,
sondern soziale: Nutzungs- und Gesprächskonventionen. Neue Dienste
sind im digitalen Zeitalter zunächst nur neue software -
und damit entsprechend fließend, mit kurzen
Innovationszeiträumen und Produktzyklen. Auch der Netzbegriff wankt:
Gehörte im Zeitalter des einfachen Telefonnetzes die Vermittlung
eindeutig zum Netz, so ist diese Eindeutigkeit inzwischen gewichen:
Meta-Netze wie das Internet bieten gerade diese Leistung an, obwohl sie
technisch (auch) auf Telefonbasis realisiert werden.
Als Mitte der 70er Jahre zum ersten Mal über die Digitalisierung des
Fernsprechnetzes diskutiert wurde, entstand in den internationalen
Gremien, die mit der Standardisierung beschäftigt waren, die Idee des
digitalen Universalnetzes, das alle bisherigen Fernmelde- und
Kommunikationsdienste inclusive der Rundfunkübertragung integrieren
sollte.
Damit eng verbunden war die Idee der Konvergenz von Massen- und
Individualkommunikation durch die Konvergenz der zugrundeliegenden Technik
(siehe Kapitel 3.1.2). Etwa zehn Jahre später
stellten Autoren wie Turner (1986) fest, daß die Praxis,
auf diversifizierte Nachfrage mit der Entwicklung
anwendungsspezifischer Kommunikationsdienste zu reagieren, in
einer Welt rapide wechselnder Nachfrage nicht länger funktioniere.
Es sei ineffizient und teuer, neben den existierenden Telefon- und
Kabelfernsehnetzen nun auch noch öffentliche Datennetze zu
entwickeln: ,,What's needed is an integrated network capable of
supporting a variety of applications, not some haphazard collection of
parallel and mutually incompatible application
networks.``
Wären diese Technikerträume jemals in die Nähe der
Verwirklichung gekommen, dann hätten auch höhere Schichten
standardisiert werden müssen. Dies wäre jedoch
fernmeldetechnisch ohne Vorbild gewesen, und entsprechend unklar
blieb das Verständnis der Fernmeldeingenieure für die
Problemlagen der Netzwerk-Welt. Nach dem Abschied von der
Universalnetz-Idee
ist jetzt zwar auch bei der Deutschen
Telekom die Rede davon, daß ein information highway aus
vielen interoperablen Teilnetzen bestehen soll (,,there will not be just
one information highway to begin with, but a whole network consisting of
bits and parts``), in der auf diese Feststellung folgenden
Aufzählung purzeln dann jedoch die Schichten, Netze und Dienste
wieder fröhlich durcheinander:
Doch diese terminologische Verwirrung korrespondiert mit einer
tatsächlichen: In immer größerem Maße wird
die Interoperabilität des vom Design her Inkompatiblen durch
Zwischenschichten hergestellt. Ein prominentes Beispiel ist
das Wissenschafts-Netz (WiN), das die deutschen Hochschulen miteinander
verbindet. Es wird, obwohl es mit X.25 auf einem paketvermittelnden
Protokoll basiert, heute überwiegend dazu genutzt, IP-Datenpakete zu
transportieren und damit seinen Nutzern den Zugang zum Internet zu
bieten. Dazu werden die IP-Pakete noch einmal verpackt und via X.25 zum
nächstgelegenen gateway geschickt. Diese Art der
Netzverknüpfung, von der Kubicek (1993) vor drei Jahren
noch annahm, sie würde den Sprung in den Massendienst-Markt nicht
schaffen, ist mit dem explosionsartigen Erfolg des Internet bereits auf
dem Weg zum Massenphänomen. Die Idee des Universalnetzes wird
sozusagen auf höherer Abstraktionsebene wiedergeboren; die
überbordende Komplexität heterogener Netzwerke wird durch
einen, offenen ,,Meta-Standard``
reduziert.
Weitgehend ungeklärt ist dabei, welche Darsteller in diesem Szenario die Bühne füllen und welche Plätze sie dort einnehmen sollen. Um die Besetzung des Stücks wird auf allen Ebenen heftig gestritten (siehe Kapitel 5). Nachdem ich für die technische Seite dieses Prozesses das OSI-Modell als Referenz vorgeschlagen habe, möchte ich nun mit Hilfe einiger Anleihen bei Eli M. Noam und seinem Modell der Netzentwicklung und -differenzierung versuchen, die politisch-ökonomische Seite überschaubarer zu machen. Auch diese Darstellung vereinfacht notwendigerweise.
,,It may be useful to ask why there is usually only one public telephone network in a country. It is not for the interconnectedness of all participants, since this justification would lead one to have only one large bank for all financial transactions. Interaction does not usually require institutional integration.``![]()
Eli M. Noam (1992b, 31ff.) sieht ein (traditionelles
Telefon-)Netzwerk als cost-sharing arrangement zwischen
verschiedenen Nutzern, also als eine Form der Interaktion zwischen
gesellschaftlichen Gruppen, deren technische Basis das Netz
bietet. In einer ökonomischen Konstellation, in
der Fixkosten hoch und marginale Kosten niedrig sind, tragen neue
Teilnehmer dazu bei, die Kosten der ,,Pfründeninhaber`` - also
der bereits angeschlossenen Teilnehmer - zu reduzieren. Der amerikanische
Telekommunikations-Ökonom Noam unterscheidet vier Wachstums-Phasen:
Phase 1 | Wachstum durch externe Subventionen | |
critical mass point (1) | ||
Phase 2 | Wachstum aus eigenem Antrieb | |
cost minimization (2) | ||
private optimum (3) | ||
Phase 3 | Gelenktes Wachstum | |
social optimum (4) | ||
exit point (5) | ||
Phase 4 | Wachstum durch externe Subventionen | |
Vollversorgung (6) |
Diesen exit point (5) vermutet Noam in der Regel vor Erreichen der Vollversorgung, da die letzten Nutzer häufig die höchsten Anschlußkosten verursachen. Die Phase zwischen privatem Optimum und exit point nennt Noam ,,Umverteilungs-Phase`` (redistributive stage). Diese Bezeichnung wählt Noam unter anderem, weil er innerhalb eines Netzwerkes eine Dynamik hin zu ungleicher Kostenverteilung annimmt: Die Mehrheit der Nutzer versucht demnach, einer Minderheit höhere Kosten aufzubürden, zum Beispiel durch ,,value-of-service`` pricing, also höhere Preise für diejenigen, die dem Telefon einen höheren Wert beimessen.
Sobald dann die Minderheit selbst zur kritischen Masse anwächst, wird es für sie denkbar, das Netzwerk zu verlassen und ein neues zu gründen, das ihnen die ungleich-höheren Kosten erspart. Dieses ,,Rosinenpicken`` ist nur zu verhindern, indem ein weiteres Netzwerk administrativ untersagt wird. Noam nimmt an, daß auf diese Weise der exit point weiter in Richtung Vollversorgung hinausgeschoben werden kann. Wenn hingegen das Recht zur Zusammenschaltung (siehe 5.1.5) mit dem existierenden Netzwerk existiert, dann wird dieser Punkt sogar früher erreicht. Jedes der neuentstehenden Netzwerke basiert auf eigenen cost-sharing arrangements. Neue Netzwerke können sich selbstverständlich auch um neue Technologien, um neue services oder in bisher unerschlossenen räumlichen Dimensionen bilden. Die Betrachtung der ökonomischen Zentrifugalkräfte erfaßt insofern nur eine Dimension; im Sinne dieser Arbeit ist es vor allem die mit der Digitalisierung einhergehende enorme Differenzierung der Netzwerk-Nutzung, die zentrifugal auf Netzmonopole wirkt.
Die Anfangsinvestitionen zur Etablierung einer neuen Netzwerktechnologie
können entweder als private Investitionen oder als öffentliche
,,Infrastruktur``-Leistungen aufgebracht werden. In einer
Situation mit Zusammenschaltungs-Rechten kann es ihm zufolge dazu kommen,
daß weniger private Anfangsinvestitionen getätigt
werden, weil die Verluste nur (oder überproportional) von den
Teilnehmern des ersten Netzwerks getragen würden;
während der Nutzen mit den Teilnehmern weiterer Netze zu
teilen wäre. (,,It pays to be second. A situation of market failure
exists.``) Zur Lösung dieses Problems schlägt Noam befristete
regulatory patents vor.
Kennzeichen der Digitalisierung ist es gerade, daß die kritische
Masse zur Gründung eines neuen Netzwerkes dramatisch sinkt: Die
Beschleunigung der Innovationszyklen und die enorme Differenzierung von
Netzen und Diensten entwerten alte Investitionen (,,versunkene
Kosten``) in immer dramatischerer Geschwindigkeit und senken damit die
Eintrittsschwellen. Auf dem Weg vom Netzwerk zum Kunden entscheidet
letztlich die dirty last mile über Zugang und
Nicht-Zugang; hier sind die letzten ,,natürlichen
Monopole`` und die damit verbundenen Regulierungsprobleme zu finden.
Die dirty last mile ist aber vorrangig ein Problem der untersten
Schichten: Ein Kabel muß vorhanden (Schicht 1) und nutzbar (Schicht
2) sein - software kann schnell ausgewechselt werden;
Nutzerkoalitionen können kurzfristig wechseln.
Ein Telekommunikations-Netzwerk, als cost-sharing arrangement und
damit als Interaktionsform betrachtet, ist also ein soziales
System, das ein (,,darunterliegendes``) technisches System zu seiner
Reproduktion benötigt.
Die Schwierigkeiten, die Begriffe Netz und Dienst voneinander zu trennen und einen nicht-zirkulär definierten Begriff der Infrastruktur zu bilden, verweisen auf politischen Entscheidungsbedarf: Das technisch und ökonomisch Unentscheidbare - nämlich die Fragen, was als value-added service und was als Infrastruktur betrachtet werden soll, welche Netzwerke öffentlichen Charakter tragen sollen und welche nicht - muß im Zusammenspiel von Technologie-, Telekommunikations- und Medienpolitik entschieden werden.
Im digitalen Zeitalter wird gerade diese Entscheidung tendenziell
willkürlich und damit erschwert, läßt sich in
geschichteten Netzwerkumgebungen doch prinzipiell auch ein value-added
service als Infrastruktur für weitere Dienste verwenden. Als
Beispiel sei erneut auf das Internet (vgl. Kapitel 3.1.3)
verwiesen, dessen TCP/IP-Dienste aus telekommunikationstechnischer
Perspektive als value-added services erscheint, während sie
für die Internet-Dienste die Infrastruktur bereitstellen. Die
Entscheidung zwischen value-added service und Infrastruktur wird
erst mit der Digitalisierung und Differenzierung der Netze und
Netztechnologien brüchig und damit politisiert; deren Zusammenspiel
sicherzustellen, wird zu einem der zentralen Regulierungsziele. Ordnungs-
und Kartellpolitik muß künftig entscheiden, bis zu welcher
Netzwerk-Schicht ein Telekommunikationsunternehmen tätig werden kann,
darf und soll, wie weit also vertikale Konzentration - in zwei
Dimensionen: entlang des OSI-Modells und entlang der
Wertschöpfungskette - zulässig sein soll.