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Telekommunikation: Digitalisierung, Netzintegration und Netzdifferenzierung

Jahrzehntelang war die ,,größte Maschine der Welt``, also das Telefonsystem, eine verhältnismäßig überschaubare Sache: Sie basierte auf einem zwar in sich komplexen, aber jeweils national einheitlichen technischen Standardgif und stellte eine aus heutiger Sicht wenig komplexe Leistung her, die Übertragung von Sprache von Punkt zu Punkt (POTS, plain old telephone service). Ihre Binnenkomplexität resultierte daraus, daß sie - dem Paradigma des one-to-one folgend - Verbindungen von jedem Endpunkt zu jedem anderen herstellen mußte. Die technische Basis (Vermittlungsstellen, Kabel, Endgeräte, Übertragungsprotokolle), die ökonomische Institutionalisierung (in den jeweiligen Post- und/oder Telefonunternehmen) und die soziale Verwendung (also durch Dritte) bildeten praktisch ein einheitliches, großes Systemgif. Diese Einheit ist zerfallen und zerfällt weiter: Telefonsysteme werden zunehmend zur Übertragung von Daten verwendet; Telefonunternehmen werden aufgeteilt (so der amerikanische Monopolist ATT im Jahre 1984), aus dem staatlichen Monopolbereich entlassen und bekommen Konkurrenz; Telefontechnik wird digital und steigert damit ihre Komplexität; das einheitliche Telefonnetz wird zum Netzwerk der Netze: Die neuen Funktelefonnetze und das ISDN sind nur zwei Beispiele. Die Digitalisierung der Telekommunikationstechnik befördert einen (weiteren) Differenzierungsschub für die Telekommunikationsnetze. Dabei überlagern sich - wie zu sehen sein wird - Tendenzen der Netzintegration mit denen der Netzdifferenzierung.

Traditionell war zwar die inhaltliche Nutzung der Netze nicht determiniert, die Netzanbieter also - in der Sprache der amerikanischen Telekommunikationsregulierung - common carriers, die einen universal service boten; praktisch jedoch eigneten sich die Netze lange Zeit ausschließlich zur Sprachübertragung. Mit der Digitalisierung ist die Nutzungsform, also die soziale Einbettung der Netze durch Einschränkung ihrer Nutzbarkeit, nicht länger technisch determiniert; die Netze stellen nur noch jeweils eine (technisch/sozial) definierte Schnittstellegif zur Verfügung, die der Nutzer in definierter Weise ansprechen kann, um eine Punkt-zu-Punkt-Verbindung zu einem anderen ,,Netzabschlußpunkt`` (so bspw. die ISDN-Terminologie der Deutschen Telekom) zu erhalten. Diese verbindungsorientierte Arbeitsweise und die damit verbundene zeit- und entfernungsabhängige Abrechnung von Einzelverbindungen erschien zu Zeiten einheitlicher, analoger Technik zwingend, ist es im digitalen Zeitalter aber nicht mehr: Arbeitsweise und Abrechnung werden sozialen (wirtschaftlichen, politischen) Entscheidungen zugänglich.

In einem digitalen Netz können Verbindungen von Punkt zu Punkt (auch) virtuellgif realisiert werden, also ohne daß tatsächlich eine dedizierte physikalische Verbindung zwischen den beiden Endpunkten besteht. Es ist leicht einzusehen, daß solche virtuellen Verbindungen billiger als ihre physikalischen Äquivalente herzustellen sind. Um diese neue Ökonomie des digitalen Telefonsystems zu verstehen, lohnt sich ein Ausflug in die abstrakten Spezifikationen der Netzwerktechnik.

Digitalisierung: Netzschichten und -protokolle.

Die Vernetzung von Computern stieß von Anfang an auf diffizilere Probleme als die Vernetzung von Telefongeräten. Bereits die eher ungewöhnlich erscheinende Sprechweise ,,Vernetzung von Telefongeräten`` weist darauf hin, daß diese Endgeräte im Gegensatz zu Computern im allgemeinen für keinen anderen Zweck als den der Vernetzung selbst gebaut wurden (und im allgemeinen auch noch werden). Um zwecktauglich zu sein, mußten sie also das (einheitliche) Telefonprotokoll beherrschen. Computer dagegen dienen vielen Zwecken; die Vernetzung zum Zwecke der Kommunikationgif ist auch heute in der Regel nur einer von vielen. Es ist nachgerade der Zweck von Computern, multiplen Zwecken dienen zu könnengif.

 

Schicht 7 application layer Anwendung
Schicht 6 presentation layer Datendarstellung
Schicht 5 session layer Kommunikationssteuerung
Schicht 4 transport layer Datentransport
Schicht 3 network layer logisches Netzwerk
Schicht 2 data link layer Übertragungssicherung
Schicht 1 physical layer physikalisches Netzwerk
Tabelle 2: OSI-Schichtenmodell; nach: Rose (1990)

Als die Vernetzung begann, über den lokalen Raum der local area networks (LANs) hinaus zu wachsen, war keiner der zur Kommunikation notwendigen Bestandteile standardisiert: Computer waren und sind an verschiedene physikalische Netzwerke (Schicht 1) angeschlossen, die auf unterschiedliche Weise die Integrität (2) der physikalischen Übertragung sicherstellen. Diese Netzwerke sind zu diversen logischen (3) Netzwerken zusammengeschlossen, durch die eine Punkt-zu-Punkt-Verbindung (4) zwischen zwei Maschinen realisiert werden kann, die nicht an dasselbe physikalische Netzwerk angeschlossen sind (oder vielmehr: sein müssen). Wenn diese vier Probleme gelöst sind, ist damit noch nichts über den Inhalt, also die Anwendung (7) der Übertragung gesagt, die wiederum auf Konventionen der Kommunikationssteuerung (5) und Datendarstellung (6) angewiesen istgif. Die Problemebenen 3 und 4 fanden ihre historisch bislang erfolgreichste Lösung durch die TCP/IP-protocol suite, die Basis des Internets (vgl. ausführlicher Kapitel 3.1.3)gif. Das internet protocol (IP) beschreibt den Transport einzelner Datenpakete zwischen eindeutig identifizierbaren Computern (genauer: ihren Netzwerk-Schnittstellen). In den Worten des entsprechenden Standards:

,,The internet protocol provides for transmitting blocks of data called datagrams from sources to destinations, where sources and destinations are hosts identified by fixed length addresses.``gif

Das transmission control protocol (TCP) stellt hingegen die Regeln für die Dauerhaftigkeit und Zuverlässigkeit der (virtuellen) Verbindung auf.

,,The TCP provides for reliable inter-process communication between pairs of processes in host computers attached to distinct but interconnected computer communication networks.``gif

TCP greift dafür in definierter Weise auf die Pakettransport-Leistungen von IP zu. IP selbst wiederum wird in (jeweils) definierter Weise auf der Basis von Netzwerkprotokollen der Ebenen 1 und 2 realisiert. Dieser Redeweise liegt eine folgenschwere Abstraktion zugrunde, die Aufteilung in Schichten der Computer- und Netzwerkkommunikation. Jede Schicht stellt einen definierten Dienst (service) zur Verfügung, auf den die nächsthöhere Schicht in definierter Weise zugreifen kanngif. Dieser Dienst ist transparent, wenn er die übermittelten Daten nicht verändertgif.

Aus der Sicht der meisten heute im Internet gebräuchlichen Anwendungen ist es effizient, daß die zugrundeliegenden Verbindungen der TCP-Schicht auf Basis der verbindungslosen IP-Schicht realisiert werden. Für eine TCP-Verbindung ist keine Reservierung bestimmter Netzbandbreitegif oder gar bestimmter physikalischer Verbindungen notwendiggif. Basierend auf verbindungsloser Paketvermittlung wird eine logische Verbindung hergestellt, während physikalisch mehrere oder gar viele Verbindungen auf einer Leitung verschachtelt werden.

TCP/IP läßt sich auch auf Basis von einfachen Telefonleitungen (POTS) realisieren; die entsprechenden (und konkurrierenden) Varianten von IP heißen SLIP (Serial Line Internet Protocol) und PPP (Point-to-Point Protocol). Umgekehrt - und damit schließt sich der Kreis - gibt es bereits in Ansätzen eine ganze Reihe von Anwendungen, die die Funktionalität des Sprachtelefons auf der Basis von TCP/IP abbildengif.

Die Deutsche Telekom (vormals Bundespost) hat die Vorteile paketvermittelter Netztechnik mit der stufenweisen Einführung digitaler Vermittlungstechnik bereits seit den siebziger Jahren für sich genutztgif; die Weitergabe dieser Vorteile an den Endkunden steht im Telefondienst bis heute aus: Mit der Gebührenumstellung zum Jahresbeginn wurde zwar die Entfernungsabhängigkeit der Kostenberechnung verringert - im Extremfall, wochentags zwischen zwei und fünf Uhr, sogar fast völlig aufgehoben - die Zeitabhängigkeit wurde jedoch weiter verschärft, während eine Abrechnung nach übertragenen Datenmengen noch nicht einmal im digitalen ISDN angeboten wirdgif.

Zwischenfazit.

Die vormals gegebene Bindung der Kommunikationstechnik an eine jeweils bestimmte Nutzungsform ist zerfallen. Nutzungsformen sind damit in bisher unbekannter Weise individuell gestaltbar. Die Komplexität des sozialen Systems der Telekommunikation (und des ,,darunter liegenden`` technischen Systems) läßt sich durch Techniken der Schichtung beliebig steigern. Auch die Verteilung der Rollen zwischen service provider und user wird fraglich und läßt sich allenfalls noch schichtspezifisch (im Sinne des OSI-Modells) bestimmen. Eine Einheit von Nutzung und Technik muß gleichwohl für die jeweils konkrete Nutzung hergestellt werden. Dies ist das Thema des folgenden Abschnitts: Interoperabilität.

Interoperabilität: Netzintegration und -differenzierung.

Neben das traditionelle Telefonnetz (POTS) und die herkömmlichen Mobilfunknetze (A- und B-Netz) sind in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe neuer Telekommunikationsnetzegif getreten: Das C-Netz als erste, aber noch analoge Ergänzung zum B-Netz; die beiden volldigitalen D-Netze, eines davon nicht im Besitz des (Sprachdienst-)Monopolisten Telekom, und das E-Netz; inzwischen ist Sprachübertragung auch in Corporate Networks möglich; Unternehmen bauen mehr und mehr eigene Kommunikationssysteme auf, die nicht vom Integrierten Text- und Datennetz der Telekom (IDN) abhängen. Für die Zeit nach der Aufhebung des Sprachmonopols der Telekom wird der Einsatz von DECT-Systemen zum drahtlosen Anschluß der Haushalte geplantgif.

Auf den ersten Blick könnte diese Entwicklung als ,,Desintegration, Differenzierung und Fragmentierung der Telekommunikation``gif beschrieben werden. Doch geht dies am Kern der Entwicklung vorbei. Denn die Tendenzen der Desintegration und der Fragmentierung der Netze, die zweifelsohne mit ihrer Differenzierung einhergehen, stehen in einem Spannungsverhältnis zu ihrer Interoperabilität. Ein Telefon wäre quasi wertlos, wenn mit ihm nur ein (möglicherweise kleiner) Teil der Telefonbesitzer erreicht werden könntegif.

Interoperabilität impliziert bereits auf der technischen Ebene die Verwendung offener statt proprietärer (wörtl.: eigentümlicher) Standards. Im wettbewerblich strukturierten Wirtschaftssystem wird die Herstellung solcher Standards unausweichlich politisiert, da sie sich nur schwer gegen Versuche individueller Vorteilsnahme absichern kanngif. Das oben vorgestellte Schichten-Konzept versucht, solche (unerwünschten) Interferenzen zu vermeiden, indem es die Schnittstellen zwischen einzelnen Schichten vollständig spezifiziert.

Dieses Problem hat es im Telefonbereich so nie gegeben: Die Fernmeldetechnik unterscheidet zwischen Netzen und Diensten, die über die Netze angeboten werdengif. Gerade diese Unterscheidung wird aber in netztechnisch geschichteten Umgebungen fließend: Ein service im OSI-Sinne kann im Prinzip auf jeder Netzebene definiert und angeboten werden. Das Fernmeldenetz ist hingegen lediglich auf den Ebenen 1 und 3 standardisiert (sofern die OSI-Terminologie überhaupt darauf anwendbar ist); die darüberliegenden Standards sind nicht technische, sondern soziale: Nutzungs- und Gesprächskonventionen. Neue Dienste sind im digitalen Zeitalter zunächst nur neue software - und damit entsprechend fließend, mit kurzen Innovationszeiträumen und Produktzyklen. Auch der Netzbegriff wankt: Gehörte im Zeitalter des einfachen Telefonnetzes die Vermittlung eindeutig zum Netz, so ist diese Eindeutigkeit inzwischen gewichen: Meta-Netze wie das Internet bieten gerade diese Leistung an, obwohl sie technisch (auch) auf Telefonbasis realisiert werden.

Als Mitte der 70er Jahre zum ersten Mal über die Digitalisierung des Fernsprechnetzes diskutiert wurde, entstand in den internationalen Gremien, die mit der Standardisierung beschäftigt waren, die Idee des digitalen Universalnetzes, das alle bisherigen Fernmelde- und Kommunikationsdienste inclusive der Rundfunkübertragung integrieren solltegif. Damit eng verbunden war die Idee der Konvergenz von Massen- und Individualkommunikation durch die Konvergenz der zugrundeliegenden Technik (siehe Kapitel 3.1.2). Etwa zehn Jahre später stellten Autoren wie Turner (1986) fest, daß die Praxis, auf diversifizierte Nachfrage mit der Entwicklung anwendungsspezifischer Kommunikationsdienste zu reagieren, in einer Welt rapide wechselnder Nachfrage nicht länger funktioniere. Es sei ineffizient und teuer, neben den existierenden Telefon- und Kabelfernsehnetzen nun auch noch öffentliche Datennetze zu entwickeln: ,,What's needed is an integrated network capable of supporting a variety of applications, not some haphazard collection of parallel and mutually incompatible application networks.``gif

Wären diese Technikerträume jemals in die Nähe der Verwirklichung gekommen, dann hätten auch höhere Schichten standardisiert werden müssen. Dies wäre jedoch fernmeldetechnisch ohne Vorbild gewesen, und entsprechend unklar blieb das Verständnis der Fernmeldeingenieure für die Problemlagen der Netzwerk-Weltgif. Nach dem Abschied von der Universalnetz-Ideegif ist jetzt zwar auch bei der Deutschen Telekom die Rede davon, daß ein information highway aus vielen interoperablen Teilnetzen bestehen soll (,,there will not be just one information highway to begin with, but a whole network consisting of bits and parts``), in der auf diese Feststellung folgenden Aufzählung purzeln dann jedoch die Schichten, Netze und Dienste wieder fröhlich durcheinander:

Doch diese terminologische Verwirrung korrespondiert mit einer tatsächlichen: In immer größerem Maße wird die Interoperabilität des vom Design her Inkompatiblen durch Zwischenschichten hergestellt. Ein prominentes Beispiel ist das Wissenschafts-Netz (WiN), das die deutschen Hochschulen miteinander verbindet. Es wird, obwohl es mit X.25 auf einem paketvermittelnden Protokoll basiert, heute überwiegend dazu genutzt, IP-Datenpakete zu transportieren und damit seinen Nutzern den Zugang zum Internet zu bieten. Dazu werden die IP-Pakete noch einmal verpackt und via X.25 zum nächstgelegenen gateway geschickt. Diese Art der Netzverknüpfung, von der Kubicek (1993) vor drei Jahren noch annahm, sie würde den Sprung in den Massendienst-Markt nicht schaffen, ist mit dem explosionsartigen Erfolg des Internet bereits auf dem Weg zum Massenphänomen. Die Idee des Universalnetzes wird sozusagen auf höherer Abstraktionsebene wiedergeboren; die überbordende Komplexität heterogener Netzwerke wird durch einen, offenen ,,Meta-Standard`` reduziertgif.

Weitgehend ungeklärt ist dabei, welche Darsteller in diesem Szenario die Bühne füllen und welche Plätze sie dort einnehmen sollen. Um die Besetzung des Stücks wird auf allen Ebenen heftig gestritten (siehe Kapitel 5). Nachdem ich für die technische Seite dieses Prozesses das OSI-Modell als Referenz vorgeschlagen habe, möchte ich nun mit Hilfe einiger Anleihen bei Eli M. Noam und seinem Modell der Netzentwicklung und -differenzierung versuchen, die politisch-ökonomische Seite überschaubarer zu machen. Auch diese Darstellung vereinfacht notwendigerweise.

Network Tipping: Modell der Netzentwicklung und -differenzierung.

,,It may be useful to ask why there is usually only one public telephone network in a country. It is not for the interconnectedness of all participants, since this justification would lead one to have only one large bank for all financial transactions. Interaction does not usually require institutional integration.``gif

Eli M. Noam (1992b, 31ff.) sieht ein (traditionelles Telefon-)Netzwerk als cost-sharing arrangement zwischen verschiedenen Nutzern, also als eine Form der Interaktion zwischen gesellschaftlichen Gruppen, deren technische Basis das Netz bietetgif. In einer ökonomischen Konstellation, in der Fixkosten hoch und marginale Kosten niedrig sind, tragen neue Teilnehmer dazu bei, die Kosten der ,,Pfründeninhaber`` - also der bereits angeschlossenen Teilnehmer - zu reduzieren. Der amerikanische Telekommunikations-Ökonom Noam unterscheidet vier Wachstums-Phasen:

  1. Zunächst braucht ein Netzwerk externe Subventionen, um eine kritische Masse (1) an Teilnehmern zu erreichen, die die Kosten tragen können, ohne Subventionen zu brauchen.
  2. Aus eigenem ökonomischem Antrieb wächst ein Netzwerk nur bis zum Erreichen eines privaten Optimums (3). Schon zuvor schlägt die Kostendegression durch Wachstum wieder in Progression um (2), weil (zum Beispiel) entlegenere Gebiete ans Netz angeschlossen werden und höhere Kosten verursachen. Diese Progression wird von den Netzteilnehmern nur solange hingenommen, wie mit dem Ausbau ein Zuwachs an ,,Nützlichkeit`` verbunden ist.
  3. Jenseits dieses Punktes bedarf es eines externen oder internen politischen Eingriffs, um die zum Stillstand gekommene Eigendynamik des Wachstums anzutreiben; zum Beispiel durch Regulierungsauflagen (universal service, siehe 5.1.2), die Netzwerken einen ,,öffentlichen`` Status zuweisen und ihnen damit untersagen, die Aufnahme neuer Nutzer zu verweigern. Auf diese Weise kann das Netz bis zum sozialen Optimum (4) und darüber hinaus wachsen. Das soziale Optimum definiert Noam als den Punkt, bis zu dem der durchschnittliche Nutzen (für alle Netzteilnehmer inclusive des Neueintretenden) noch wächst, während der marginale Nutzen (für die Netzteilnehmer exklusiv) bereits zurückgeht.
  4. So kann ein Netzwerk bis zur Vollversorgung (6) der Bevökerung wachsen, falls nicht bereits vorher ein Punkt erreicht wird, an dem die Kostensteigerung durch Aufnahme neuer Nutzer dazu führt, daß ein Teil der alten Nutzer das Netzwerk verläßt.

 

Phase 1 Wachstum durch externe Subventionen
critical mass point (1)
Phase 2 Wachstum aus eigenem Antrieb
cost minimization (2)
private optimum (3)
Phase 3 Gelenktes Wachstum
social optimum (4)
exit point (5)
Phase 4 Wachstum durch externe Subventionen
Vollversorgung (6)
Tabelle 3: Wachstumsmodell der Telekommunikation (Eli M. Noam)

Diesen exit point (5) vermutet Noam in der Regel vor Erreichen der Vollversorgung, da die letzten Nutzer häufig die höchsten Anschlußkosten verursachen. Die Phase zwischen privatem Optimum und exit point nennt Noam ,,Umverteilungs-Phase`` (redistributive stage). Diese Bezeichnung wählt Noam unter anderem, weil er innerhalb eines Netzwerkes eine Dynamik hin zu ungleicher Kostenverteilung annimmt: Die Mehrheit der Nutzer versucht demnach, einer Minderheit höhere Kosten aufzubürden, zum Beispiel durch ,,value-of-service`` pricing, also höhere Preise für diejenigen, die dem Telefon einen höheren Wert beimessen.

Sobald dann die Minderheit selbst zur kritischen Masse anwächst, wird es für sie denkbar, das Netzwerk zu verlassen und ein neues zu gründen, das ihnen die ungleich-höheren Kosten erspart. Dieses ,,Rosinenpicken`` ist nur zu verhindern, indem ein weiteres Netzwerk administrativ untersagt wird. Noam nimmt an, daß auf diese Weise der exit point weiter in Richtung Vollversorgung hinausgeschoben werden kann. Wenn hingegen das Recht zur Zusammenschaltung (siehe 5.1.5) mit dem existierenden Netzwerk existiert, dann wird dieser Punkt sogar früher erreicht. Jedes der neuentstehenden Netzwerke basiert auf eigenen cost-sharing arrangements. Neue Netzwerke können sich selbstverständlich auch um neue Technologien, um neue services oder in bisher unerschlossenen räumlichen Dimensionen bilden. Die Betrachtung der ökonomischen Zentrifugalkräfte erfaßt insofern nur eine Dimension; im Sinne dieser Arbeit ist es vor allem die mit der Digitalisierung einhergehende enorme Differenzierung der Netzwerk-Nutzung, die zentrifugal auf Netzmonopole wirkt.

Die Anfangsinvestitionen zur Etablierung einer neuen Netzwerktechnologie können entweder als private Investitionen oder als öffentliche ,,Infrastruktur``-Leistungengif aufgebracht werden. In einer Situation mit Zusammenschaltungs-Rechten kann es ihm zufolge dazu kommen, daß weniger private Anfangsinvestitionen getätigt werden, weil die Verluste nur (oder überproportional) von den Teilnehmern des ersten Netzwerks getragen würden; während der Nutzen mit den Teilnehmern weiterer Netze zu teilen wäre. (,,It pays to be second. A situation of market failure exists.``) Zur Lösung dieses Problems schlägt Noam befristete regulatory patents vor.

Kennzeichen der Digitalisierung ist es gerade, daß die kritische Masse zur Gründung eines neuen Netzwerkes dramatisch sinkt: Die Beschleunigung der Innovationszyklen und die enorme Differenzierung von Netzen und Diensten entwerten alte Investitionen (,,versunkene Kosten``) in immer dramatischerer Geschwindigkeit und senken damit die Eintrittsschwellen. Auf dem Weg vom Netzwerk zum Kunden entscheidet letztlich die dirty last milegif über Zugang und Nicht-Zugang; hier sind die letzten ,,natürlichen Monopole`` und die damit verbundenen Regulierungsprobleme zu finden. Die dirty last mile ist aber vorrangig ein Problem der untersten Schichten: Ein Kabel muß vorhanden (Schicht 1) und nutzbar (Schicht 2) sein - software kann schnell ausgewechselt werden; Nutzerkoalitionen können kurzfristig wechseln.

Ein Telekommunikations-Netzwerk, als cost-sharing arrangement und damit als Interaktionsform betrachtet, ist also ein soziales System, das ein (,,darunterliegendes``) technisches System zu seiner Reproduktion benötigtgif.

Die Schwierigkeiten, die Begriffe Netz und Dienst voneinander zu trennen und einen nicht-zirkulär definierten Begriff der Infrastruktur zu bilden, verweisen auf politischen Entscheidungsbedarf: Das technisch und ökonomisch Unentscheidbare - nämlich die Fragen, was als value-added service und was als Infrastruktur betrachtet werden soll, welche Netzwerke öffentlichen Charakter tragen sollen und welche nicht - muß im Zusammenspiel von Technologie-, Telekommunikations- und Medienpolitik entschieden werden.

Im digitalen Zeitalter wird gerade diese Entscheidung tendenziell willkürlich und damit erschwert, läßt sich in geschichteten Netzwerkumgebungen doch prinzipiell auch ein value-added service als Infrastruktur für weitere Dienste verwenden. Als Beispiel sei erneut auf das Internet (vgl. Kapitel 3.1.3) verwiesen, dessen TCP/IP-Dienste aus telekommunikationstechnischer Perspektive als value-added services erscheint, während sie für die Internet-Dienste die Infrastruktur bereitstellen. Die Entscheidung zwischen value-added service und Infrastruktur wird erst mit der Digitalisierung und Differenzierung der Netze und Netztechnologien brüchig und damit politisiert; deren Zusammenspiel sicherzustellen, wird zu einem der zentralen Regulierungsziele. Ordnungs- und Kartellpolitik muß künftig entscheiden, bis zu welcher Netzwerk-Schicht ein Telekommunikationsunternehmen tätig werden kann, darf und soll, wie weit also vertikale Konzentration - in zwei Dimensionen: entlang des OSI-Modells und entlang der Wertschöpfungskette - zulässig sein sollgif.


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Martin Recke
Fri May 17 20:40:57 MET DST 1996