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[Mit Naturstoffen auf Angeltour]


Zum Verwechseln ähnlich: Myxobakterien sehen aus wie Pilze und leben in direkter Nachbarschaft und Konkurrenz zu ihnen.

Zum Angeln braucht man viel Geduld und einen Köder. Doch welcher ist der richtige? Fliege oder Regenwurm? Forelle, Karpfen & Co sind da wählerisch – Proteine im Cytoplasma auch. Für Prof. Dr. Markus Kalesse – den jüngsten „Fang“ des Instituts für Chemie – sind Zellen nichts anderes als trübe Tümpel, deren physikalische Grenze die Zelloberfläche ist. „Das klassische Gebiet der Pharmaindustrie sind Rezeptoren in der Zellmembran. Viele wesentliche Prozesse finden jedoch im Zellinneren statt. Aber wie kommt man an die verantwortlichen Proteine heran?“ Welcher Köder ist zum Beispiel am geeignetsten, um ein Shuttleprotein abzufischen, das in Tumorzellen Signalstoffe, die für die Zellteilung notwendig sind, aus dem Zellkern herausgeschleust?


Baukastenchemie für effiziente Synthese

Mit der ersten Totalsynthese von (+)-Ratjadone – einem zytotoxischen Naturstoff – gelang es Kalesse kürzlich, einen Köder für derartige Proteine zu finden. Um einen möglichst effizienten Syntheseweg zu finden, zerlegte er das erstmals 1994 aus einem Bakterium isolierte langgestreckte Molekül quasi gedanklich – via Retrosynthese – in drei Fragmente: A, B und C.



(+)-Ratjadone – hier die Strukturformel – ist ein zytotoxischer Naturstoff.

Wie zur „rechtsdrehenden Milchsäure“ im Joghurt, ist auch zu (+)-Ratjadone ein Enantiomer – die unnatürliche, spiegelbildliche (–)-Form – denkbar. Kalesse zerlegte auch dies (in A’, B’, C’) und synthetisierte mit seiner Gruppe alle sechs Fragmente. Mit diesem Baukastensystem war nun nicht nur das „Original“ herstellbar, sondern es lassen sich auch alle denkbaren Kombinationen durchdeklinieren: A-B’-C, A-B-C’, A’-B’-C etc. Durch Variationen an einzelnen Kohlenstoffatomen will der Chemiker zusätzlich untersuchen, welche Strukturmerkmale für die biologische Aktivität essentiell und welche nur schnödes Beiwerk sind, auf das später im Arzneistoff verzichtet werden kann. Für zellbiologische Tests, die bislang an der Medizinischen Hochschule Hannover durchgeführt wurden, konnte er Uwe Finkemeier (s. FUN 6/2002, Seite 13) vom Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie in Buch gewinnen.

Der Köder ist gefunden, fehlt noch der Haken, an dem das Protein aus dem „Tümpel“ gezogen werden kann. Etwa ein Fluoreszenzmarker wie das berühmte leuchtende Quallenprotein oder ein „Affinitätslabel“, durch das sich der Naturstoff wie mit einem Druckknopf an das Protein anklicken lässt. Aber das ist vergleichsweise nur noch Kleinkram.


Suche nach unbekannten Abwehrstoffen

Währenddessen hat der 41-Jährige bereits andere Zielmoleküle im Auge. Marine Naturstoffe, etwa das Tenadolid, dem eine ähnlich gute zytostatische Wirkung wie dem Eibeninhaltsstoff Taxol nachgesagt wird. Oder Stoffe, die von Myxobakterien hergestellt werden. Diese Winzlinge leben, in Konkurrenz zu Pilzen, auf verrottendem Holz und produzieren eine Vielzahl von Substanzen (darunter Chivosazol), die die Zellteilung von Pilzen hemmen. „Man hofft darunter etwas zu finden, das auch das Wachstum von menschlichen Tumorzellen hemmt, denn Pilzzellen sind den unsrigen recht ähnlich“, erläutert Kalesse. Letzteres ist eine eher befremdliche Vorstellung – aber warum nicht, wenn es wirkt?

Beim Moostierchenprojekt macht sich die Gruppe selbst auf die Suche nach neuen biologisch aktiven Substanzen. Die wie Algen aussehenden Lebewesen namens Flustra Foliceae holen Taucher vor Helgoland aus der Nordsee. Im Labor werden sie gefriergetrocknet, klein gehäckselt und mit verschiedenen Lösemitteln extrahiert. Eine recht schlammige Angelegenheit. Durch Chromatographie lassen sich die Inhaltsstoffe auftrennen. Überwiegend bromhaltige Substanzen finden sich dabei. Einfacher aufgebaut und weniger toxisch als solche, die Kleinstlebewesen in tropischen Gewässern produzieren.

In kälteren Gewässern gibt es weniger Diversität – sowohl was die Mikroorganismen selbst als auch die deren Inhaltsstoffe angeht. Kalesse hat da seine eigene Theorie. „Im warmen Wasser gibt es viel Konkurrenz für die Winzlinge, die sie mit Wirkstoffen in Schach halten. In kaltem Wasser scheint schon das Ankämpfen gegen die Natur schwierig genug zu sein.“ Kalesse sieht in den Naturstoffen keine „Vernichtungswaffen“, sondern eine Art Sprache, eine Drohgebärde, die Feinde abschrecken soll. „Setzt man zwei verschiedene Mikroorganismen in eine Petrischale, wachsen sie zunächst aufeinander zu und „beschnüffeln“ sich. Dann produzieren sie Abwehrstoffe bis einer nachgibt und sich zurückzieht.“ Manchmal soweit, dass der „Verlierer“ buchstäblich mit dem Rücken zur Wand steht und bis auf den Rand der Glasschale hochkriecht.

„Genügt die Drohung nicht, wird das Toxin mit Kübeln ausgeschüttet. Der Druckpunkt ist überschritten – was gefährlich wird, denn manch Angegriffener gewöhnt sich daran und spuckt die giftige Brühe einfach wieder aus. Eine Resistenz hat sich entwickelt. Der verblüffte Gegner muss sich nun etwas Neues „ausdenken“, denn sonst geht er unter.



Myxobakterien produzieren hochpotente Wirkstoffe gegen Pilze wie das Zytostatikum Chivosazol, hier als Formel dargestellt. Es gilt als das stärkste bisher bekannte Zytostatikum.

Ein evolutionärer Wettstreit, der die Quelle für immer neue Naturstoffe ist, die perfekt an den jeweiligen Zweck angepasst sind. „Leider wissen wir nur meist nicht wofür“, bedauert Markus Kalesse. Ihn interessieren vornehmlich die chemischen Strukturen und der schnellste Weg, sie im Labor nachzuvollziehen. Aber er will durch die Synthese auch mehr darüber lernen, wie die Biologie der Zelle funktioniert. Denn nur dann gelingt es, sie auszutricksen, wenn einmal etwas außer Kontrolle gerät – wie bei Krebs.

Catarina Pietschmann




Prof. Dr. Markus Kalesse
fischt gern im Trüben.


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