Die Zahl der Juden, die in der Bundesrepublik leben, hat sich in den vergangenen zehn Jahren verfünffacht (auf ca. 100.000). Die öffentliche Wahrnehmung ist jedoch nach wie vor überwiegend historisch: Juden sind Gegenstand von Forschungsprojekten, Dokumentarfilmen, Zeitzeugen-Erinnerungen, politischen Debatten, Archiven und Museen. Sofern Judentum in Deutschland überhaupt einmal als zeitgenössische Kultur in den Blick gerät, wird es über visuelle Topoi wie Synagogen und Kippot als mysteriöse Religionsgemeinschaft exotisiert. Nicht nur antisemitische, sondern auch wohlmeinende Klischees gehen an der Realität jüdischen Lebens vorbei. Die Vorstellungen, die sich nicht-jüdische Deutsche von Juden machen, haben mit der aktuellen Wirklichkeit oft nur sehr wenig zu tun.
In der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße (Centrum Judaicum) ist zur Zeit eine Wanderausstellung zu sehen, die den Versuch unternimmt, die Darstellung des Judentums zu demusealisieren und die vermeintliche jüdische 'Andersheit zu entmystifizieren: Zeichen des Alltags beleuchtet Aspekte jüdischen Alltags heute banale 'Normalitäten' ebenso wie kleinere und größere 'Differenzen'. Sie stellt konkrete Fragen: Wie leben Juden in Deutschland heute wirklich? Wie religiös sind sie überhaupt? In welchen Situationen wird ihnen ihr Judentum bewusst? Das Motto des Projekts sei, so schrieb die Zeitschrift Aufbau in New York: Was Sie schon immer über Judentum wissen wollten, sich aber nie zu fragen trauten. Die Ausstellung verzichtet bewusst auf historische Originale, deren auratischer Effekt Distanz und Fremdheit erzeugen würden: Ihre Installationen (Exponate zu insgesamt 27 Fragestellungen) setzen sich zusammen aus jeweils zwei milchweißen Kunststoff-Leuchtkästen, die übereinander an einem zwei Meter hohen Metallgestell befestigt sind. Der obere Leuchtkörper zeigt ein bildschirmgroßes farbiges Piktogramm. Auf dem zweiten Display ist ein kurzer Text aufgetragen. Alle Elemente sind 'Readymades', Fertigteile, wie sie im Straßenraum oder in Kaufhäusern verwendet werden. Sie setzen sich zusammen zu einer popkulturellen Zeichenwelt jüdischen Lebens der Gegenwart. Das hellgelbe Symbol einer Tora-Rolle beispielsweise wird mit der Information kombiniert: Etwa zwei bis drei Prozent der jüdischen Deutschen gehen am Sabbat in die Synagoge. Die jüdische Minderheit, die so oft über ihre Religiösität aufgefasst wird, lebt also weitgehend säkular. Für viele Juden ist es dennoch wichtig, einen jüdischen Partner zu finden. Eine andere Graphik zeigt zwei ineinander verschränkte Eheringe. Der Text lautet: Die Heiratsvermittlung 'Simantov' in Frankfurt hilft seit 1987 bei der Suche nach jüdischen Partnern. Durchschnittlich gelingt eine Ehestiftung im Monat. Für Juden gelten besondere Regeln auf diversen Gebieten der Rechtsprechung, die in der Ausstellung jeweils durch ein Symbol vertreten sind. Einreisewillige Juden werden bevorzugt in Deutschland aufgenommen allerdings nur, wenn sie aus Ländern der früheren Sowjetunion kommen. Der Personengruppe Juden in Deutschland gestattet die Gesetzgebung ausnahmsweise eine doppelte Staatsbürgerschaft. Jüdische Deutsche werden in Anbetracht besonderer Härte vom Wehrdienst befreit sofern ihre Großeltern verfolgt wurden. Deren Urenkel werden von dieser Regelung nicht mehr berührt sein. Auch wenn eine juristische Gleichstellung erfolgen soll, ergeben sich mitunter mehrdeutige Situationen: So hat die Jüdische Gemeinde zu Frankfurt die Einziehung ihrer Gemeindesteuern den Finanzbehörden übertragen. Dies machte auf der Lohnsteuerkarte die Kennzeichnung der Konfession erforderlich. Der Buchstabe J wurde vermieden und stattdessen die Abkürzung IS (für Israelitisch) gewählt. Aber auch dies führte zu Missverständnissen, wenn nämlich IS als Kürzel für Islamisch verstanden wurde.
Andere Stationen der Ausstellung lassen die Ambivalenzen erahnen, welche die Identität deutscher Juden charakterisieren: Woran denken sie am 9. November zuerst an die Kristallnacht oder an die Öffnung der Mauer? Unter welcher Flagge beteiligen sich deutsch-jüdische Sportler an internationalen 'Maccabi-Spielen'? In Oldenburg, so erfahren wir, ist die einzige deutsche Rabbinerin tätig. Und der Verein homosexueller Jüdinnen und Juden Yachad organisiert Veranstaltungen mit einer türkischen Schwulengruppe. Die Vielfalt jüdischer Kulturen entzieht sich stereotyper Definition.
Die Wanderausstellung Zeichen des Alltags hatte ihre Premiere im Jüdischen Museum in Fürth von November 2000 bis Februar 2001. Anschließend wurde sie durch das Museum Viadrina in der Marienkirche in Frankfurt (Oder) gezeigt. Bis Ende Mai sind die Installationen nun in der Neuen Synagoge Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße in Berlin zu sehen.
Oliver Lubrich