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Projekt "Schule im gesellschaftlichen Verbund"

Bildung ist im politischen Diskurs der letzten Jahre wieder zu einem bestimmenden Thema geworden. Das war zuletzt Anfang der siebziger Jahre der Fall. Doch seitdem scheint das Geld knapper geworden zu sein und die Rationalisierung auch den Bildungssektor erreicht zu haben: Reformmaßnahmen sind heutzutage gezwungen, ihre Effektivität – natürlich wissenschaftlich – nachzuweisen. Aber ist die Effizienz von Bildung zu messen? Man versucht es zumindest. Doch in solchen internationalen Schulvergleichsmessungen erscheint das deutsche Schulsystem keineswegs in einem rosigen Licht. Auch die Wirtschaft sieht Reformbedarf. Ihre Qualifikationsanforderungen kollidieren nicht nur mit humanistischen Bildungsidealen, sondern ebenso mit der Realität im deutschen Schulsystem: So genannte „Schlüsselqualifikationen“ fehlen. Probleme lösen, statt das Erreichen „korrekter“ Ergebnisse ist gewünscht. Praxisorientierte Kompetenzen erwerben, statt Faktenwissen abspulen, wird gefordert, ohne dass die meisten, die danach rufen, wissen, wie das erreicht werden kann. Unter der Leitung von Professor Dieter Lenzen ist am Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie vor einem Jahr ein Team von fünf Bildungsforscherinnen angetreten, die Effektivität eines viel versprechenden Reformversuchs zu evaluieren.

Im Rahmen des Projekts „Schulen im gesellschaftlichen Verbund“ werden die Erziehungswissenschaftlerinnen über einen Zeitraum von vier Jahren den Bildungserfolg eines Schulversuchs in Berlin und Bayern evaluieren.

Die Idee zu diesem Schulversuch stammt aus der alltäglichen Praxis und entstand bereits vor zehn Jahren in der Berliner Ferdinand-Freiligrath-Oberschule in Berlin. Als man dort erkannte, dass herkömmliche Unterrichtsformen am Desinteresse der Schüler scheiterten, begann man konsequent, schulisches Lernen an nicht-schulische Alltagssituationen zu binden.

Arenen ersetzen Klassenverband

Man schuf sechs so genannte „Arenen“ (Atelier, Markt, Bühne, Medien, Natur, Technik, Stadion) als Ersatz für den herkömmlichen Klassenverband, in denen sich Schüler unterschiedlicher Altersstufen in verschiedenen Herangehensweisen mit wechselnden Projektthemen beschäftigen. Beim Thema „Behausung“ werden zum Beispiel nicht nur Gebäudegrundrisse gezeichnet, sondern auch der Umgang mit digitalen Bildbearbeitungsprogrammen und die Anfertigung von Flächenberechnungen eingeübt.

Weitere Projektthemen sind beispielsweise „Einstudieren eines Theaterstücks“ oder „Erstellung einer Dokumentation über Jugendeinrichtungen“. Außerschulische Experten wie Künstler, Handwerker, Sportler oder Computerfachleute gestalten zusammen mit den Lehrern einige Stunden in der Woche und tragen reale Problemstellungen in die „Arenen“ und bringen auch ihre Qualitätsansprüche von „draußen“ mit. Das fand das Interesse des Autoherstellers BMW, der das wegweisende Projekt jahrelang nicht nur mit finanziellen Mitteln, sondern auch durch die Bereitstellung von Experten aus der Ausbildungswerkstatt des Berliner Werks unterstützte.

Der Konzern regte auch an, den Berliner Versuch auf bayerische Verhältnisse zu übertragen. Seit letztem Jahr ist das Projekt an den vier bayerischen BMW-Standorten angelaufen. Hier liegt neben der Evaluation der Ergebnisse der zweite Interessensschwerpunkt des Projektteams, denn sie helfen auch bei der Implementation des Schulversuchs, erstatten Bericht über ihre bisherigen Erkenntnisse und geben damit wichtige Hinweise für eine verbesserte Praxis an den Schulen. Sie sorgen für Kommunikation zwischen den Projekten, helfen bei den Anträgen an die Schulverwaltung und beantworten so wichtige Fragen wie: Auf welche Weise können die vorgegebenen Unterrichtsinhalte der Rahmenpläne, die natürlich weiterhin gelten, innerhalb der Arenen abgehandelt werden? Aus der engen Verbundenheit der BMW Group mit dem Reformversuch resultiert auch die finanzielle Unterstützung des Evaluierungsprojekts an der Freien Universität.

Drei pädagogische Prinzipien sind für das Schulprojekt konstitutiv: Die realen oder realitätsnahen Aufgabenstellungen orientieren sich am Prinzip der Situiertheit. Durch die Beteiligung von Experten aus der beruflichen Praxis und durch die Realisierung von öffentlichen Veranstaltungen wie Ausstellungen und Aufführungen wird das Prinzip der Authentizität realisiert, und die verschiedenen Formen der in den Lerngruppen praktizierten Gruppenarbeit sind Ausdruck des Prinzips der Kooperation.

Der Versuch steht in der Nähe von didaktischen Modellen, die vor dem Hintergrund der Theorien der „Situierten Kognition“ entwickelt wurden. Danach ist Wissenserwerb nicht ablösbar von konkreten sachlichen und sozialen Kontexten.

Die populäre Vorstellung vom Erwerb der oft beschworenen „Schlüsselqualifikationen“, die nicht an konkrete Inhalte gebunden sein sollen, erscheint aus dem Blickwinkel dieser Theorie kaum haltbar. Trotz aller theoretischen Überzeugungskraft bedürfen die didaktischen Konzepte noch der wissenschaftlichen Untermauerung.

Der Berliner Schulversuch und sein bayerisches Pendant sind optimale Untersuchungsgegenstände für die Schulforschung, dies zu tun.

Lernerfolg ist mehr als Fachwissen

Ob die Kinder wirklich genauso viel lernen wie in einer normalen Schule, fragen sich nicht nur die Eltern der betroffenen Schüler. Das Forscherinnenteam um Professor Lenzen wird während der Laufzeit des Projekts den Lernerfolg anhand standardisierter Tests mit dem Lernerfolg einer herkömmlichen Schule vergleichen. Dass dabei nicht einfach nur Fachwissen abgeprüft werden muss, versteht sich von selbst, denn Bildungserfolg versteht das Team als generalisierte Lernbereitschaft und Lernkompetenz, die sich aus dem Zusammenspiel verschiedenster Komponenten entwickelt, von denen die Fachleistung nur eine unter vielen ist. Auch Hilfestellung für die Lehrer soll im Rahmen des Projekts angeboten werden, denn das situierte Lernen in den Arenen stellt zwar ein Gegenmodell zum Frontalunterricht dar, bedeutet aber nicht, dass die Aufgaben des Lehrers in diesem Prozess schwinden.

Ganz im Gegenteil: Die Ansprüche an die Lehrer steigen eher. Sie müssen immer wieder neu entscheiden, an welchen Punkten sie eingreifen und wie sie eine die Schüler zum Lernen motivierende Atmosphäre schaffen. Auch die Auswirkungen auf die Lehrer werden daher innerhalb des Projektes durch Interviews miterfasst und in Bezug auf die Bedingungen, die zum Gelingen eines solchen didaktischen Modells beitragen, untersucht. In gut drei Jahren wird man wissen, ob es sinnvoll ist, wenn Lehrer nicht mehr alleine in den „Ring“ steigen, sondern zusammen mit Experten die „Arena“ betreten. Vielleicht der große Auftritt eines neuartigen Bildungsmodells.

Niclas Dewitz

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