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Der FU-Absolvent Dr. Harald Nusser ist Lehrbeauftragter am Fachbereich Mathematik und Informatik und arbeitet bei der Schering AG in der Abteilung "Global Biometrics Coordination"

   

Eine merkwürdige Zahl macht von sich reden - Null und Wichtig

Harald Nusser

"Das Universum beginnt und endet mit der Null", so schließt der Mathematiker und Journalist Charles Seife sein Buch "Zwilling der Unendlichkeit - Eine Biographie der Zahl Null".

Fernab solch effektvoller Zeilen frage ich mich, wo wir in unserem Alltag mit der Null zu tun haben und warum die Null in zu sein scheint: Als Null wird man nur ungern bezeichnet, in der Physik kann man den Wert null nicht messen, für Betriebswirte kann eine schwarze Null etwas Positives sein, bei großen Zahlen lässt man sie hinten irgendwann weg, gelegentlich streitet man sich dann noch, ob sie groß oder klein geschrieben werden soll. Die meisten Menschen fangen mit eins zu zählen an, beim Countdown jedoch zünden die Raketentriebwerke bei null und nicht bei eins, dennoch steht die Null auf der Tastatur des Telefons nicht vor der Eins. Erst kürzlich sprach man im Zuge der Debatte, wann denn nun das neue Jahrtausend (unseres Kalenders) beginne, über null. Fragen Sie einen Mathematiker danach, was Mathematik eigentlich ist, wird er Ihnen vermutlich keine Antwort geben können; fragen Sie ihn nach der Bedeutung der Null für die Mathematik, wahrscheinlich schon. Er wird zwei zentrale Aspekte nennen.

Beim Gruppenbegriff spielt die Null eine wichtige Rolle; sie ist diejenige Zahl, die zu jeder beliebigen anderen Zahl addiert werden kann, ohne dass sich am Ergebnis etwas ändert. Man nennt sie daher auch neutrales Element der Addition. Um eine Gruppe zu definieren, ist die Existenz genau eines neutralen Elements Voraussetzung. Die Null hat daher dort ihren Platz.
Beim Grenzwertbegriff spielt sie auch mit hinein. Stellen Sie sich vor, Sie haben Geburtstag und machen mit Ihrer Freundin ein Sahnetortenwettessen. Sie gelten als Tortenschnellfraß und geben ihrer halb so schnellen Freundin eine Torte Vorsprung. Als Sie mit der ersten fertig sind, hat sie gerade einmal eine halbe verdrückt. Klar, nur noch eine weitere und Sie haben sie eingeholt und bekommen nicht einmal Bauchschmerzen. Klar? Früher war das nicht klar, da hat eine andere Beschreibung solch eines Problems den Leuten aus einem anderen Grund Bauchschmerzen bereitet. Angenommen, Sie hätten die erste Torte intus, wegen des Vorsprungs hätte ihre Freundin dann eine halbe Torte mehr als Sie gegessen. Um diesen Vorsprung aufzuholen, äßen Sie eine weitere halbe, in der Zeit äße ihre Freundin ein weiteres Viertel. Nachdem Sie dieses aufgeholt hätten, stellten Sie fest, dass ihre Freundin ein weiteres Achtel geschafft hätte usw. Müssten Sie nun zu unfairen Mitteln greifen? Das Problem liegt im "usw.", letztlich wird die Zeit immerfort halbiert, der Zeitpunkt Ihres Sieges scheint unerreichbar. Sie kommen ihm zwar beliebig nahe und scheinen dennoch nicht weiterzukommen. Wegen der unendlichen Zahl von Zeitabschnitten müsste man annehmen, das Wettessen ginge immer weiter, was es jedoch nicht tut. Denn die Folge der zurückgelegten Zeitabschnitte (1, 1.5, 1.75, ...) hat einen Grenzwert, 2. Es kommt immer weniger Zeit hinzu. Leider darf ich als Mathematiker nicht sagen, dass irgendwann nichts mehr hinzu kommt, denn das Irgendwann liegt im Unendlichen. Obwohl es jetzt so aussieht, als redeten wir um die heiße Torte, ist es Mathematikern doch gelungen, diese vage Vorstellung des beliebig Nahekommens mit dem Grenzwertbegriff mathematisch exakt zu fassen.

Manche Leute – wie Charles Seife – geben vor, das Universum beginne mit der Null, obgleich es sie historisch betrachtet lange Zeit nicht gab. Wozu auch? Um zu entscheiden, welcher Futterberg größer ist, brauchen Lebewesen sie nicht. Sie benötigen dafür nicht einmal Zahlen, nur eine Ahnung davon, ob beispielsweise fünf Bananen mehr als drei sind. Erst nachdem man begonnen hatte, Anzahlen mit Namen, nämlich Zahlen, zu belegen, entstand der Wunsch, diese darstellen bzw. mit ihnen rechnen zu können. Um ein Stellenwertsystem, beispielsweise hatten die Babylonier ein 60er System, eindeutig zu gestalten, also z.B. 1 von 60 oder 3600 unterscheiden zu können, benötigte man ein zusätzliches Symbol. Um ca. 1900 v. Chr. wurde einfach ein freier Platz gelassen, nur konnte dieser, je nach Stil des Schreibers, durchaus übersehen oder missverstanden werden. Schließlich wurde um 300 v. Chr. die Leerstelle gesondert markiert, ohne dass sie jedoch schon die heutige Bedeutung hatte, die die Null nun bei uns hat. Diese Markierung wurde denn auch nicht als Lösung der Aufgabe drei minus drei verstanden. (Unabhängig von den Babyloniern erfanden die Maya und Olmeken in Zentralamerika ca. 350 v. Chr. ein Stellenwertsystem, das ein Nullzeichen hatte, sie hatten ein 20-er System.) Über die Inder, die aus dem 60-er- ein Zehnersystem machten, und die Araber kam unser Zahlensystem zu uns. Dennoch dauerte es lange, bis die Null in unserem Kulturkreis ihre feste Bedeutung erhielt. Insgesamt müssen die Merkmale eines entwickelten Zahlensystems, (die Wahl einer geeigneten Basis, die Notation im Stellenwertsystem und auch die Erfindung einer Null), als besondere Stufen in der Entwicklung unseres Zahlensystems angesehen werden. So konnte es Grundlage für die Entwicklung einer abstrakten Mathematik sein, die mehr ist als bloßes Zählen. So oder nur so?

Einige sagen "so" und meinen damit, dass die Entwicklung auch auf anderem Wege dorthin hätte gelangen können, wo wir heute sind. Für (im wesentlichen) "nur so" spräche die erstaunliche Tatsache, dass viele mathematische Sätze von verschiedenen Mathematikern unabhängig voneinander entdeckt wurden, obwohl sie aus ganz unterschiedlichen sozioökonomischen Systemen kamen. Gibt es also eine naturimmanente Grundlage der Mathematik? Beruht mathematisches Wissen auf dem Entdecken der Wahrheiten dieser Welt, ist Mathematik am Ende gar eine Naturwissenschaft? Oder doch eher nicht?

Naturwissenschaftler sind vornehmlich darum bemüht, Zusammenhänge zu entdecken und zu beschreiben, um dann ggf. aus diesen Schlussfolgerungen zu ziehen; Theoretiker kreieren auch neue Zusammenhänge. Dabei muss es dem Theoretiker zunächst nicht darauf ankommen, mögliche Anwendungen zu finden, wenngleich sich seine Arbeit, jedenfalls in unserer Gesellschaft, später genau daran messen lassen muss.

Bekannt ist, dass neue mathematische Strukturen auch aus physikalischen Arbeiten entstanden: Newtons Entwicklung der Infinitesimalrechnung ist wohl das bekannteste Beispiel. Erfreulicherweise gibt es ebenso bemerkenswerte Beispiele für die Anwendung bereits existierender Mathematik: Keplers Gebrauch der Theorie der Kegelschnitte des Apollonius für die Beschreibung der Planetenbewegungen, den Gebrauch der Hilberträume in der Quantentheorie, Einsteins Anwendung des Tensorkalküls und der nichteuklidischen Geometrie bei der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie oder auch die Verwendung der Gruppentheorie in der Physik der Elementarteilchen (vgl. dazu auch Barrow, Warum die Welt mathematisch ist, dtv 1996).

Für uns Mathematiker gibt es also viel zu tun. Da kümmert es uns eigentlich recht wenig, dass es in der Antike die Null noch nicht gab und wir daher noch im alten Jahrtausend leben.

 
 
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