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Politische Wissenschaft


Wie halten’s die Berliner Abgeordneten?
Probleme und Chancen parlamentarischer Integration

VON HELMAR SCHÖNE
UND ANNE SCHILLO

Die Mauer in Berliner Köpfen ist Gegenstand verschiedener Untersuchungen mit unterschiedlichen Ergebnissen. Einer besonderen Sorte Köpfe widmet sich der Politologe Dr. Helmar Schöne in seiner Dissertation am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften "Probleme und Chancen parlamentarischer Integration – Eine empirische Studie zum Ost-West-Integrationsprozess unter Abgeordneten". Seine Untersuchung nimmt die Auswirkungen der politischen und kulturellen Differenzen zwischen alten und neuen Bundesländern auf den Prozess der parlamentarischen Willensbildung unter die Lupe. Mit 50 Mitgliedern des Berliner Abgeordnetenhauses wurden 1996 sogenannte Experteninterviews geführt, ergänzt um die Analyse der Sozialstruktur des Landesparlaments. Die Arbeit folgt der in der Elitenforschung verbreiteten Unterscheidung zwischen dem Aspekt der ideologischen (kulturellen) und der verhaltensbezogenen (institutionellen) Integration. Aus Ost-West-Gegensätzen resultierende Hindernisse für die Integration des Parlaments findet Schöne vor allem im kulturellen Bereich.

Mit der Übertragung der politischen Institutionen in den Ostteil Berlins wurde der Rahmen geschaffen, in dem sich unter den Ostberliner Abgeordneten ein Rollenverständnis, eine Arbeitsweise und ein Kommunikationsnetzwerk entwickelt haben, die im Großen und Ganzen den aus Westberlin bekannten Mustern entsprechen. Diese Feststellung verdeutlicht Schöne in einer Reihe von Beispielen:

Parteiarbeit: Heute sind die Ostberliner ähnlich wie die Westberliner Mitglieder des Abgeordnetenhauses (MdAs) durch verschiedene Führungsämter mit ihren Parteien verwoben. Damit geht eine Verstetigung der politischen Karrieren in Ostberlin einher, die zur weiteren Annäherung in den Verhaltensweisen der Parlamentarier beiträgt.

Trotz der Unterschiede in der Organisationsstärke der Parteien stellen sich die Probleme der Partei- und Wahlkreisarbeit in Ost und West ähnlich dar. Die Organisationswirklichkeit der Parteien in Ost-berlin nimmt nur eine auch für den Westen zu erwartende Entwicklung vorweg: die von der Mitglieder- zur Funktionärspartei.

Kommunikationsbeziehungen: Die Kontakte der Ostberliner MdAs zu gesellschaftlichen Interessengruppen und politisch-administrativen Institutionen stehen denen der Westberliner Parlamentarier prinzipiell in nichts nach. Sie bieten gute Voraussetzungen für die demokratische Responsivität der Parlaments-Neulinge. Weil die das Erlernen der parlamentarischen Arbeit und den Aufbau ihrer Wahlkreiskontakte parallel zu gestalten hatten, reicht ihr lokales Netzwerk eher in die Tiefe als in die Breite.

Netzwerke im Parlament: In allen Fraktionen sind die Ostberliner entsprechend ihres jeweiligen Anteils in parlamentarische Führungsfunktionen (Fraktionsvorstände, Sprecher, Ausschussvorsitzende) gelangt. Das sichert ihnen den Zugang zu zentralen Entscheidungspositionen und ermöglicht eine erfolgreiche Interessenartikulation. Ein gesondertes fraktionsübergreifendes Kontaktnetz der Ostberliner gibt es nicht. Ost-West-Konflikte werden in den einzelnen Fraktionen ausgetragen.

Auch beim Aspekt der kulturellen Integration finden sich Gemeinsamkeiten zwischen West- und Ostberliner Akteuren. Es gibt einen breiten Konsens über die wichtigsten Probleme der Stadt und die Unterschiede in den politischen Zielvorstellungen sind zwischen den Fraktionen vielfach größer als zwischen den Abgeordneten aus Ost und West. Aber es gibt auch ausgeprägte Gegensätze wie:

Die Einstellungen zum Transformationsprozess: Die Ostberliner MdAs nehmen vor allem die Defizite in der Infrastruktur ihrer Bezirke wahr und halten den Integrationsprozess daher für ein sozioökonomisches Problem. Vor die Vollendung der inneren, mentalen Einheit stellen sie die Herstellung der materiellen Einheit. Die Westberliner Parlamentarier weisen aus der Furcht vor der Vernachlässigung der eigenen Bezirke Forderungen aus dem Ostteil zurück und erklären die ausstehenden Integrationsaufgaben zu einem kulturellen Problem – zu einem Problem der "Mauer in den Köpfen". Dass sich die Ost-West-Differenzen am schärfsten äußern, wo sie unmittelbar interessengeleitet sind, stützt die These der Transformationsforschung, die die kulturellen Diskrepanzen nicht nur auf die Sozialisation in unterschiedlichen politischen Systemen zurückführt, sondern sie zuerst als eine Reaktion auf die Folgen der Wiedervereinigung versteht.

Die Fremd- und Selbstbilder: Aufgrund ihres normativen Parlamentsverständnisses, das sich auch in einem pragmatischen, weniger ideologischen und kommunikativen Verhalten ausdrückt, werden die Ostberliner MdAs von ihren West-Kollegen für naiv und unerfahren gehalten. Umgekehrt kritisieren die Ostberliner den Strukturkonservativismus und die Betriebsblindheit der im Umgang mit den parlamentarischen Strukturen erfahreneren Westberliner. Diese Fremdbilder, entstanden im Zuge der Konstituierung gesamtdeutscher Institutionen, prägen weiter den Deutungshorizont der Abgeordneten und erschweren die Kommunikation und den Interessenausgleich. Sie sind ein Element der Kontinuität im fortlaufenden Integrationsprozess. "Ost" und "West" werden weiter wichtige, die Wahrnehmung der Abgeordneten strukturierende Distinktionskriterien bleiben.

In den Ost-West-Differenzen zeigt sich die aus Legitimationsgründen notwendige vertikale Bindung der Abgeordneten an die Interessen ihrer Herkunftsbezirke. Um nicht die Unterstützung ihrer Wählerschaft zu verlieren, müssen sie deren Interessen deutlich artikulieren. Das kann, um öffentliche Aufmerksamkeit zu finden, die Polarisierung zwischen Ost und West verstärken. Die parlamentarische Integration sieht Schöne dennoch nicht in Frage gestellt, weil die institutionelle Integration als wichtige Bedingung für die kooperative Konfliktaustragung und Interessenkonversion der Abgeordneten schon weit fortgeschritten ist. Auch in der Sozialstruktur der Abgeordneten, in der Verteilung parlamentarischer Führungsfunktionen und der Annäherung der Karrierewege sieht Schöne gute Voraussetzungen für die Kooperationsfähigkeit der Parlamentarier und damit für die Lösung der Probleme, die mit der Herstellung der Einheit der Stadt verbunden sind.

Foto: Abgeordnetenhaus Berlin

Wie Abgeordnete Ost oder West
sich selbst und die anderen sehen:

"(...) da konnte man also in der Regel einen Abgeordneten aus dem Osten im Gegensatz zu einem Abgeordneten aus dem Westen sehr gut unterscheiden, weil der Abgeordnete aus dem Osten hat grundsätzlich zu einem Thema was Neues gesagt und kurz und knapp. Und der Abgeordnete aus dem Westen hat nichts Neues gesagt und lang und breit. Also diese Selbstdarstellung..."

(SPD-MdA, Ost-Berlin)

"Wir sind einfach nicht in der Lage, dass das, was wir wollen, schnell genug umgesetzt wird, weil eine irrsinnige Bürokratie hier besteht. Da komme ich auch nicht mit, sage ich, das macht mich verrückt. (...) Ich sage mal, die Westler haben den Kopf voll Paragraphen und wir den Kopf voll neuer Ideen. Weil wir ja nicht ..., wir sind ja keine Paragraphen-Menschen, das haben wir ja nicht gelernt. Jeder der hier in der Verwaltung aufgewachsen ist, der trainiert ja nicht ein, wie er was nach vorne bringt, sondern der trainiert in seinen Kopf nur ein, wie er irgendwo keinen Fehler macht. Das ist zweierlei. Und damit blockiert er erstmal alles."

(CDU-MdA, Ost-Berlin)

"Ich habe immer gesagt, sie haben vielleicht die einfacheren Rezepte im Vergleich zu dem Wissen bei uns, dass alles so einfach nicht ist, weil wir natürlich das ganze Verwaltungshandeln, was dahinter schon wieder steht, immer schon mit im Kopf haben. Also wir haben ständig die Schere da oben mit drin und hier bei den Ostberlinern eigentlich so dieses Gefühl war, wenn das gemacht werden muss, muss es doch auch einen Weg geben. Also nicht die Reichsbedenkenträgerschaft (...) Das wiederum hat natürlich auch bei uns das Bewusstsein wieder dafür geschärft, dass wir vielleicht zu stark wieder in Abhängigkeit als Regierungsfraktionen geraten zur Regierung, also dass da vielleicht unsere Kontrollfähigkeit, die wir besitzen müssten, nicht so ausgeprägt war wie gerade von Leuten, die unbelastet eben einfach daran gegangen sind und gesagt haben, wenn man von einer Gewaltenteilung spricht, müßte diese Gewaltenteilung quasi klassisch sein. Und bei uns ist sie natürlich nicht klassisch, weil die Gewaltenteilung sich total verändert hat."

(SPD-MdA, West-Berlin)

"Die Ossis passen sich immer mehr den Westlern an. Also wahrscheinlich ist die Neigung, sich Untugenden anzupassen immer größer als die Neigung, sich Tugenden anzupassen."

(CDU-MdA, Ost-Berlin)

"Leider Gottes reduzieren sich unsere Treffen (der Ostberliner Abgeordneten) in letzter Zeit weitestgehend auf Personalfragen, weil die inhaltliche Diskussion wird nicht geführt, aus Angst bei den Ostlern, dass man ihnen unterstellt, sie wollen spalten. Den Westlern unterstellt man nie, dass sie spalten wollen. Aber den Ostlern unterstellt man’ s und die haben dann immer gleich ein schlechtes Gewissen. Das macht den Unterschied aus, übrigens auch ein Unterschied in der Politik, die im Osten haben hin und wieder noch ein schlechtes Gewissen, die Wessis kennen so etwas nicht. Das ist ein bisschen überspitzt, aber ich sag’ s mal so."

(CDU-MdA, Ost-Berlin)

"Also neuerdings ärgert mich Folgendes: Dass sie sich doch mehr zurückziehen und ihre eigenen Dinge erledigen wollen, also dieses geistige Zusammenwachsen in der Form nicht stattfindet. Sie igeln sich ein, sie haben auch innerhalb der Fraktion eine Gruppe, das sind so 21/22, ich weiß jetzt nicht genau, wie viele es sind, die doch, wenn es um Mehrheiten geht, Sachaussagen, sich lieber erst mal allein zusammensetzen als ... Die treffen sich alleine und einen haben sie dann schon, der das sagt. Das ärgert mich, weil in der Fraktion gibt es ja immer Strömungen und nun gibt es noch eine, ich sag´ das mal. Das ärgert mich, ... aber vielleicht fühlen sie sich unterrepräsentiert, vielleicht aus der sogenannten Schwäche heraus, dass sie sich zusammen tun. Mich ärgert das, dass man ... Im Moment kommt man nicht mehr ran. Also, ich sage mal, dieses Zusammenwachsen, von dem man spricht, das ist sichtbar, hier überall, aber ich habe so das Gefühl, dass wir uns im Moment ein wenig weg bewegen und nicht zusammen kommen. Das ärgert mich."

(CDU-MdA, West-Berlin)