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Sinologie
VON NICOLA SPAKOWSKI
Der Aufruf zur "Befreiung der Kinder", den der namhafte chinesische Schriftsteller Lu Xun 1919 an seine Landsleute richtete, steht exemplarisch für die Bemühungen einer Generation chinesischer Intellektueller, den Umgang mit Kindheit einem radikalen Wandel zu unterziehen. "Befreiung" bedeutete für Lu Xun Loslösung aus den Fesseln der alten, konfuzianischen Gesellschaft, in der das Kind durch die Gebote der "Kindespietät" und des Ahnenkultes dem bedingungslosen Gehorsam gegenüber Eltern und Älteren unterlag. Lu Xun und andere forderten, das Kind nicht mehr als "kleinen Erwachsenen" zu betrachten, sondern in seiner Eigenart und seinen spezifischen Bedürfnissen anzuerkennen. Sie erhoben die "Entdeckung" der Kindheit als eigenständige Phase im Leben des Menschen zum Programm. Die konkreten Forderungen einer solchen Ablösung von - im Selbstverständnis der damaligen Protagonisten "traditionellen" durch "moderne" Sichtweisen auf und Umgangsweisen mit dem Kind waren vielfältig: Der kindlichen Phantasie entsprechende Lesestoffe wie Märchen und Fabeln sollten die von konfuzianischen Moralvorstellungen geprägten klassischen Lehrbücher ersetzen. In der Eltern-Kind-Beziehung sollten elterliche Liebe und Fürsorge an die Stelle von Verbot und Strafe treten. Die Erziehung in Familie und öffentlichen Einrichtungen sollte dem natürlichen Bewegungsdrang und Spieltrieb der Kinder ausreichend Raum gewähren, usw. Der Diskurs über Kindheit war somit zwangsläufig von den Grundproblemen des Modernisierungsprozesses geprägt: dem Verhältnis von Tradition und Moderne, von indigen chinesischen und westlichen Konzepten. Es sind dies bis heute aktuelle Probleme, die die derzeitige Gesellschaft in vielen Punkten, auch in Fragen von Kindheit und Erziehung, zur Auseinandersetzung mit republikzeitlichen Lösungsversuchen bewegen. Dies lässt sich z.B. an der Wiederauflage damaliger pädagogischer Werke ablesen, die von einem Menschenbild ausgehen, das sehr viel individualistischer und damit den komplexen Anforderungen der Wettbewerbsgesellschaft der 80er und 90er Jahre angemessener ist als die maoistische Vorstellung des einheitlichen, beliebig formbaren "neuen Menschen" des Sozialismus. Der republikzeitliche Diskurs über Kindheit ist somit in doppelter Hinsicht relevant und doch in der sinologischen Forschung bisher nicht wahrgenommen worden.
Das am Ostasiatischen Seminar der FU unter Leitung von Prof. Mechthild Leutner seit 1995 durchgeführte und von der FNK (Kommission für Forschung und Wissenschaftlichen Nachwuchs) geförderte Projekt "Konzepte von Kindheit im China der Republikzeit" hat diese Forschungslücke gefüllt, indem es den Kindheitsdiskurs der Republikzeit einer Analyse unterzogen und in einer soeben fertiggestellten Buchpublikation (LIT Verlag, Hamburg; im Druck) die Analysen und Übersetzungen zentraler Quellen umfasst, einem sinologischen und sozialhistorisch interessierten Publikum vorgestellt hat. In der Auswertung neuer Quellen, der innovativen Fragestellung und dem vergleichenden Ansatz war das Projekt einerseits um die Stärkung eines sozialwissenschaftlichen Ansatzes innerhalb der Sinologie bemüht, andererseits um die Eingliederung Chinas in die allgemeine Geschichtsschreibung mit ihrem leider immer noch stark westlich zentrierten Ansatz und Horizont. Am Beginn des Projektes stand die Sammlung von Quellen in chinesischen Bibliotheken, die die Relevanz der Thematik zusätzlich bewusst gemacht hat: Wissenschaftliche und populäre Monographien und Zeitschriften aus den Bereichen Erziehung und Bildung, Psychologie, Kinderliteratur usw. liegen in großem Umfang vor. Die Sichtung der Quellen legte eine Untergliederung des Gegenstandes in die Bereiche Kinderliteratur, Vorschulerziehung, Familienerziehung und popularisierte Konzepte der Kinderpsychologie nahe, die in Einzelstudien teilweise im Rahmen von Magister- und Dissertationsprojekten untersucht wurden. Das Projekt stand in allen Phasen im Austausch mit chinesischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, und besonders der Wissenschaftleraustausch im Rahmen des Kooperationsabkommens zwischen Freier Universität Berlin und Peking-Universität konnte hier gewinnbringend genutzt werden. Im Ergebnis konnte ein sehr facettenreicher Diskurs über Kindheit rekonstruiert werden. Thematisch ging es um das Wesen des Kindes, seine Bedürfnisse, seine Entwicklung, seine Stellung in Familie und Gesellschaft und um eine den Besonderheiten des kindlichen Wesens und seiner Entwicklung gerecht werdende Erziehungspraxis. In den Texten finden sich Periodisierungen von Kindheit, die Definition psychischer und physischer Entwicklungsstufen, Grundsätze der Kinderpflege, Ratschläge zu Sport und Spiel, zur Wohnungseinrichtung, zu Unterrichtsmethoden und Lehrmaterialien, zur Organisation von Kindergärten, zur Elternrolle und auch zu heiklen Themen wie der Sexualerziehung. Zentral war das Bedürfnis der Abgrenzung von traditionellen Kindheitskonzepten. Damit wurde auch deutlich, warum die Zuwendung zum Thema Kindheit genau zu diesem Zeitpunkt begann. Die Intelligenz der sogenannten "Neuen Kulturbewegung" der 1910er und 20er Jahre erkannte, dass die Gründung der Republik im Jahre 1911 die hierarchischen Gesellschaftsstrukturen und die konfuzianisch geprägte Mentalität der Kaiserzeit nicht aufgehoben hatte. Diese durch eine demokratische, von "modernen" Denkweisen geprägte Gesellschaft zu ersetzen, war ihr Grundanliegen, und der Umgang mit dem Kind und seine Stellung in der Gesellschaft galten ihr als Ansatzpunkt dieses Wandels. Mit der "Neuen Kulturbewegung" war der vorläufige Höhepunkt einer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnenden Reihe chinesischer Reformbewegungen erreicht, die durch immer tiefer greifende Reformen von der Waffentechnologie über die Industrie zu politischen Institutionen und schließlich gesellschaftlichen und geistigen Strukturen eine Stärkung des Landes gegenüber den westlichen Aggressoren anstrebten. Vor diesem Hintergrund entstand ein Diskurs über Kindheit, der von der Rezeption westlicher Reformpädagogen (Pestalozzi, Froebel, Montessori, Dewey u.a.), der Beschäftigung mit der eigenen Tradition sowie empirischen Untersuchungen geprägt war. Kindheit gehörte zu den zentralen Themen intellektueller Debatten der chinesischen Republikzeit (1911-1949), weil sie in direktem Bezug zu Problemen der Gesellschaftsstruktur und der Modernisierung des Landes stand: Kinder wurden als die künftigen Staatsbürger der neu zu etablierenden Gesellschaft verstanden, so dass neue Gesellschaftskonzepte und Konzepte von Kindheit eng aufeinander bezogen waren. So sollten z.B. demokratische Gesellschaftsstrukturen auf einer egalitär strukturierten, von einer kameradschaftlichen Eltern-Kind-Beziehung geprägten Kleinfamilie aufbauen. So prangerte beispielsweise der Literat Zheng Zhenduo 1936 die "Pädagogen der alten Schule" an. In Bezug auf die Kinderkleidung wirft er ihnen vor: "Sie wollen das Kind in einen kleinen Erwachsenen verwandeln, genau wie wir ihn zu Neujahr auf der Straße sehen können als Kind, das ganz wie ein Erwachsener in Miniatur aussieht mit Käppchen auf dem Kopf (die Quaste aus roten Fäden), langem Rock und Beamtenjacke und an den Füßen feine Satinschuhe, oder als Kind im modernen Stil gekleidet, mit westlichem Anzug, schneeweißem Hemd, bunter Krawatte, Lederstiefeln und Filzhut, ganz wie eine Marionette auf der Bühne." In Bezug auf schulische Lerninhalte beklagt er, dass Kindern Erwachsenenwissen vermittelt werde: "Von Astronomie und Geschichte zu Vorstellungen von Ethik müssen die Kinder alles umfassend lernen. Wie ein unbestechlicher und guter Staatsbürger sein muss, wie ein folgsamer Sklave unter der Herrschaft eines autokratischen Hofes, der treu jedem Befehl nachkommt, sein muss, wie ein Kind, das ständig darauf bedacht ist, ein pietätvoller Sohn und gefügiger Enkel in der verdorbenen Familie zu sein, sein muss, ja sogar die Gefühle der Erwachsenen hinsichtlich Glück und Unglück muss ein Kind restlos und viel zu früh lernen." Den "traditionellen" wurden "moderne" Konzepte gegenübergestellt, die den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erhoben. Dieser leitete sich aus empirischen Untersuchungen und der Auseinandersetzung mit westlichen Wissenschaften her, deren Konzepte es wiederum in Auseinandersetzung mit der Realität Chinas zu modifizieren galt. Der für den Kindheitsdiskurs der Republikzeit typische Anspruch des revolutionär Neuen wurde implizit aber an vielen Stellen verletzt. Der konfuzianische Kerngedanke der Erziehbarkeit des Menschen etwa liegt auch den republikzeitlichen Texten zugrunde. Tradition und Moderne, China und Westen, Theorie und Praxis gehen in den Texten zu Kindheit also ein komplexes Verhältnis ein, das zu den Grundproblemen der wissenschaftlichen Befassung mit China insgesamt gehört. |
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