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[Vom Reiz des Lebens am Ende der Welt – Dawid Danilo Bartelt ist Pressespreche von ai in Deutschland und mehrfach preisgekrönter Absolvent der FU]

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Der Sertão: Trockene, arme Hochebene im Nordosten Brasiliens, Schauplatz der Bewegung von Canudos.

Wo ist der Rand der Welt? Für den europäischen Blick sicherlich da, wo Dawid Danilo Bartelt als Student zwei Jahre seines Lebens verbracht hat: In den Armenvierteln von Recife im unterentwickelten Nordosten Brasiliens. Bis heute sind die Lebenswelten der Menschen in solchen Regionen sein Lieblingsthema geblieben. Als Pressesprecher der deutschen Sektion von Amnesty International residiert er heute in der Gegenwelt zu den ärmlichen Hütten, in denen er damals die Folgen von Unterentwicklung, Gewalt und Abhängigkeitsstrukturen hautnah erlebte: Die Büroetage im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin-Mitte wirkt aufgeräumt, viel Holz, Wände aus Glas. Alles ist durchschaubar, einsehbar, demokratisch an diesem nüchternen Schauplatz des Kampfes für die Menschenrechte.

Seit seiner Jugend war Bartelt damit konfrontiert, was es für Menschen bedeutet, diese Rechte vorenthalten zu bekommen. In Bochum, wo er aufwuchs, wohnte er mit seiner Familie auf dem Campus des Ökumenischen Studienwerks für ausländische Gastwissenschaftler. In den 70er Jahren waren dort vor allem Stipendiaten aus Südamerika untergebracht, die der kirchliche Träger dem Zugriff der brutalen Militärdiktaturen zu entziehen suchte. „Die Erzählungen von Flucht und Verfolgung haben mich als 13-, 14-Jährigen tief beeindruckt“, sagt Bartelt. In dieser Nachbarschaft lernte er seine ersten Brocken Spanisch und wurde sensibilisiert für die Probleme und Zusammenhänge von Unterentwicklung, Ausbeutung und Gewalt. Er begann in Bochum Geschichte zu studieren und ein Auslandsstudium zu planen, weil er wissen wollte, wie sich die Abhängigkeitsstrukturen am angeblichen Rand der Welt entwickelt hatten. Wie kam es zu Unterentwicklung? Hatte das mit Rassismus zu tun? Diese Fragen treiben ihn bis heute um. Nach zwei Semestern in Hamburg bekam er ein Stipendium für ein Jahr in Lateinamerika. Eher durch Zufall fiel die Wahl auf Recife im Nordosten Brasiliens. „Möglichst weit weg und möglichst wenig europäisch war mir damals am wichtigsten. Ich wollte eine größtmögliche Erfahrung von Differenz“, erinnert sich Bartelt. In Recife angekommen, fand er nach einigen Monaten einen Ort, wo sich die Wirklichkeit von Armut und Unterdrückung unmittelbarer zeigte als in den Lehrbüchern.

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Wiedersehen mit den Freunden vom Schulprojekt Recife

In dem armen Stadtteil Morro da Conceição von Recife lebten Menschen ihren Widerstand gegen das, was Bartelt heute mit leichtem Zögern als „postkoloniale Unterdrückung“ bezeichnet: Dort gab es eine aktive kirchliche Basisgemeinde, einen kämpferischen „Bewohnerrat“ und eine Selbsthilfeschule, die Kindern der Armen eine Ausbildung bieten wollten, betrieben von Frauen des Stadtteils. „Mir wurde klar, wie Unterricht Bildung verhindern kann“, sagt Bartelt. „Die üblichen Schulbücher zeigten blonde Kinder, die ein eigenes Zimmer hatten, Urlaub in Europa machten und mit dem Auto zur Schule gebracht wurden.“ Die Kinder, die diese Bücher benutzen, waren praktisch alle schwarz, spielten mit zahlreichen Geschwistern am Rande offener Abwässerkanäle und waren noch nie aus ihrer Stadt herausgekommen. Die Lebenswirklichkeit der Kinder und ihrer Eltern und die reiche Volkskultur des Nordostens konsequent zum Lehrinhalt in allen Fächern zu machen, war revolutionär. Die Selbsthilfeschule drehte die Curricula quasi um und vermittelte den Kindern eine Ahnung davon, dass sie eine Geschichte haben und eine Gegenwart, die man, um der Geschichte willen, nicht einfach hinnehmen muss. „Ende des 19. Jahrhunderts schauten die brasilianischen Eliten in den europäischen Spiegel und sahen die Mehrheit ihrer Landsleute daraufhin als degeneriertes Modernisierungshemmnis – weil sie Schwarze oder Mestizen waren“, erläutert Bartelt. Er war begeistert von dem Konzept der kleinen Schule und ist es immer noch. „Heute würde ich sagen, dass diese Menschen Menschenrechtsarbeit leisten – und zwar sowohl zu den bürgerlich-politischen wie zu den sozialen und kulturellen Menschenrechten.“ Er fand Freunde unter den Initiatoren und bald auch eine neue Bleibe. Einer der Lehrer nahm ihn in seiner ärmlichen Behausung auf. Seine Studentenwohngemeinschaft direkt neben der Uni sah ihn fortan seltener. Im August 1988 kam Bartelt nach Deutschland zurück und wechselte noch einmal den Studienort. Seine Wahl fiel auf die Freie Universität – eine Entscheidung, die er bis heute nicht bereut.

Dawid Danilo Bartelt

Foto: Dewitz

Sein Studium beendete er mit einer Arbeit über die Auslandsorganisation der NSDAP in Brasilien in den dreißiger Jahren. Nach dem Studium und einem Praktikum beim RIAS begann Bartelt als freier Journalist zu arbeiten. Für ihn reichte das Geld, doch als er in Berlin seine spätere Frau, eine Brasilianerin, kennenlernte, merkte er, dass eine Familie so nicht zu finanzieren war: Er wechselte die „Seiten des Schreibtischs“ und wurde vom Journalisten zum Pressesprecher. Drei Jahre arbeitete er für eine Entwicklungshilfeorganisation. Reisen führten ihn nach Israel und Palästina, Japan und Südkorea sowie in den kurdischen Nordirak. Doch im Geiste blieb er Brasilien treu und ein Projekt gedieh, dessen Keim schon viel früher gelegt worden war. Auf der Suche nach journalistischen Reportage-Themen war Bartelt auf Canudos gestoßen, eine religiöse Bauern-Bewegung im Sertão, dem trockenen Hinterland der Küste von Bahia. 1897 wurde sie in einem blutigen Krieg von den Truppen der jungen brasilianischen Republik vollständig vernichtet.

Dieses Thema ließ ihn nicht mehr los. Was passiert mit den Hinterländern, wenn Staaten sich zu modernen Nationalstaaten ausbilden wollen? Anfang 1997 gab er seinen Job auf, um sich vier Jahre auf seine Dissertation zu konzentrieren. Summa cum laude lautete die Bewertung und es gab den Friedrich-Meinecke-Preis für die beste geschichtswissenschaftliche Dissertation und den Ernst-Reuter-Preis 2002 für eine der vier besten Dissertationen der gesamten FU. Demnächst erscheint die Arbeit in brasilianischer Übersetzung – noch vor der deutschen Ausgabe. Es erstaunt Bartelt, dass sein Außenseiterthema der Freien Universität gleich zwei Preise Wert war. Heute kann sich Bartelt als einer der wenigen ausgesprochenen Brasilien-Historiker in Deutschland bezeichnen. Der Job als Pressesprecher bei amnesty, den er vor gut zehn Monaten nach längerer Arbeitslosigkeit antrat, erscheint da fast als ein Abweg. So erstaunt es nicht, dass Bartelt auf die Frage, ob er sich vorstellen könnte, nun auch weiter wissenschaftlich zu arbeiten, mit einem klaren „Ja“ antwortet. „Zumindest möchte ich gerne weiter Seminare geben und noch das Eine oder Andere schreiben.“ Der Mann aus dem Haus der Demokratie hat noch in anderen Häusern einen Koffer stehen.

Niclas Dewitz

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