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[Geisteswissenschaftliche Nachwuchsgruppe untersucht die Rhetorik der Immunität]

[Gustave Flaubert]

Gustave Flaubert

Kann man über Dummheit forschen? „Ja“, die einfache Antwort von Jana Ziganke von der einzigen geisteswissenschaftlichen Nachwuchsgruppe der Volkswagenstiftung, die an der Freien Universität existiert. Die promovierte Komparatistin hat sich ebenfalls wie Martin von Koppenfels dem Roman im 19. und 20. Jahrhundert verschrieben. „Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Roman entscheidend“, sagt Koppenfels, dem die Begeisterung über das Thema im Gesicht geschrieben steht. „Schriftsteller lockten ihre Leser nicht mehr in eine Welt großer Gefühle und extremer Zustände, statt dessen prallte der Leser gegen eine Wand von Ironie und Abwehr“. Mit dem Schwund an Affekten kommt auch die Dummheit ins Spiel. So karikiert beispielsweise der französische Schriftsteller Gustave Flaubert, Autor der tragischen Madame Boveray, die französische Gesellschaft, indem er selbst in den dümmlichen Tonfall der ländlichen Notablen verfällt.

Spätere Autoren wie beispielsweise Paul Valéry versuchen, sich gegenüber Affekten und Dummheit gleichermaßen zu immunisieren, denn „jede Erregung, jedes Gefühl ist Anzeichen eines Fehlers in der Konstruktion und der Anpassung“ (Valéry). So entsteht als Alter ego des Autors die desensibilisierte Figur des Monsieur Teste - eine "intelligence pure". Die Figuren von Franz Kafka, Robert Walser oder Samuel Beckett hingegen scheinen keine Berührungsangst vor der Einfältigkeit zu besitzen- im Gegenteil, gerade diese wirkt wie ein Schild gegenüber ihren widrigen Umständen: Beckett beispielsweise beraubt seine Mülltonnenfiguren nicht nur systematisch ihrer körperlichen Integrität, sondern auch ihrer sprachlichen Ausdrucks- und Denkfähigkeit. "Letztlich geht es um die Verneinung von Sensiblität", sagt Dr. Jana Ziganke, die über die "Wundmale der Dummheit" habilitiert, und genau an diesem Punkt berührt sich ihre Arbeit mit dem Thema von AG-Leiter Koppenfels, der den französischen Roman auf die Frage untersucht, seit wann und wie aus dem mitfühlenden Schriftsteller ein Autor wird, dessen Feder seine Helden wie mit dem Skalpell seziert.
Mit dem inzwischen leider eingestellten Programm „Nachwuchsgruppen an Universitäten“ fördert die Volkswagen-Stiftung junge qualifizierte Wissenschaftler mit innovativen Ideen und interdisziplinären Projekten aus allen Bereichen. Koppenfels und seine beiden Kollegen finanziert die VW-Stiftung mit ihrem Projekt „Rhetorik der Immunität – Das Jahrhundert des unempfindsamen Textes“ für fünf Jahre. „Wir sind von dem Programm begeistert“, meint Koppenfels und betont, dass die Nachwuchsgruppen vor allem von Naturwissenschaftlern genutzt wurden. Die drei haben bei ihrer Forschung relativ freie Hand. Am Ende müssen allerdings zwei Habilitationen und eine Promotion herausspringen.

Die Leser scholten Flaubert für seine fehlende Emphatie. „Flaubert bekam viele wütende Briefe, warum er so wenig mit der armen Madame Boveray habe, die aus Liebeskummer schließlich Selbstmord begeht. „Die Erfahrung scheiternder Emphatie wird zur Haupterfahrung des modernen Lesers“, sagt Martin von Koppenfels, der den Schlüssel zu einer zeitgemäßen Theorie der Affekte untersucht. „Ich habe mit dem Wahn und der Phantasie gespielt wie Mithridates mit den Giften (...)“. schreibt Gustave Flaubert und verrät sich damit gleich als Sohn eines Arztes.

Denn der Romancier überträgt die Idee systematischer Abhärtung gegen toxische Substanzen auf das neurotische Seelenleben. Einen Schritt weiter noch geht Paul Valéry, der in seinen Cahiers berichtet: „Ich habe Jahre gebraucht, um mich zu sensibilisieren. Nur um mich dann jahrelang zu desensibilisieren“. Das Unempfindlichwerden, dem die Schriftsteller im 19. Jahrhundert nach spüren, hat seine Parallelität in der Medizin. Schon im 18. Jahrhundert finden die ersten Pockenimpfungen statt, wobei die Ärzte zunächst wenig zimperlich verfahren. Geimpfte Strafgefangene werden in eine Bett mit Pockenkranken gelegt und überleben. Im Rahmen seiner Fürsorgepflicht beginnt der moderne Staat sich um das Wohl seiner Bürger zu kümmern. Im 19. Jahrhundert erforschen bedeutende Bakteriologen, was sich genau im Körper des Menschen bei der Immunisierung gegen Krankheiten abspielt.

„Es ist sicher kein Zufall, dass viele Schriftsteller aus Ärztefamilien stammen“, erzählt Johannes Türk, der im Rahmen der Nachwuchsgruppe über das Thema „Immunität: Archäologie eines medizinhistorischen Paradigmas der Moderne“ promoviert. „Denken Sie an Marcel Proust“, dessen Vater eine große Rolle bei der Bekämpfung von Seuchen spielte“, sagt Türk und ist sogleich bei dem „Zauberberg“ von Thomas Mann. Wie in kaum einem anderen modernen Roman steht die Modekrankheit der damaligen Zeit, die Tuberkulose und die Psychoanalyse im Mittelpunkt. Körperliche Zustände wie Fieberanfälle symbolisieren das Auf und Ab heftiger Gefühle. Wie auf der Coach zergliedert Thomas Mann das Gefühlsleben seiner Protagonisten. So fügt es sich zu einem Ganzen, dass der dritte im Bunde der Arbeitsgruppe ein paar Semester Medizin studiert hat und in seiner Arbeit den sich wandelnden Begriff der Immunität untersuchen will.

Felicitas von Aretin

Foto: Ullstein

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