London des Ostens: Budapest im Morgengrauen.
Von Heiko Schwarzburger
Weltgeschichte und Plattensee: Wenn in Deutschland die Rede auf Ungarn kommt, dann erinnern sich viele Menschen an die Grenzöffnung im Herbst 1989. Oder sie denken an ihren letzten Sommerurlaub zurück, an den Balaton, an herrliches Wetter, Wasser und Gastfreundschaft. Seit wenigen Tagen ist Ungarn Mitglied der Europäischen Union. Bald wird sich ein differenziertes Bild verbreiten: Die Magyaren sind ein Volk der Forscher und Denker. Gemessen an der Bevölkerung brachte kein Land der Welt bislang mehr Nobelpreisträger hervor.
Ungarische Spitzenwissenschaftler waren und sind über die ganze Welt verstreut. „Wenn wir ein Teil des neuen Europa werden wollen, dann müssen wir die jungen Leute im Land halten“, meint Professor Eörs Szathmáry, der an der Universität in Budapest Evolutionstheorie lehrt. Szathmáry ist 43 Jahre alt. Der Biologe gehört zu einer Generation junger Forscher, die nach dem Ende des Stalinismus eine glänzende Karriere machte. Gegenwärtig ist er Permanent Fellow am Collegium in Budapest. „Dorthin laden wir Wissenschaftler ein, damit sie in Ruhe an einem selbst gewählten Thema arbeiten können“, erläutert er. „Ohne die Hilfe beispielsweise von der VolkswagenStiftung wäre dies unmöglich. Die ungarischen Hochschulen können solche Bedingungen nicht bieten.“
Im März 2003 bewilligte die Stiftung eine größere Summe für eine Arbeitsgruppe zur computergestützten Molekularbiologie. Neun Nachwuchsforscher versuchen, die Entwicklung von Zellen zu modellieren, wie sie sich teilen und wachsen. Dazu gehört auch, Einflüsse wie Licht, Feuchtigkeit und Temperaturen zu simulieren.
Mit der Bewilligung setzt die VolkswagenStiftung ihr Engagement in Budapest fort: Schon bei der Errichtung des Collegiums im Jahr 1991 halfen die Hannoveraner mit finanzieller Unterstützung. Das Collegium entstand nach dem Vorbild des Berliner Wissenschaftskollegs, als Institute for Advanced Study. „Wir haben nach dem politischen Umbruch in Südosteuropa drei solche Institute für höhere Studien aufgebaut, in Budapest, Sofia und Bukarest“, erzählt Dr. Joachim Nettelbeck, der Sekretär des Wissenschaftskollegs am Berliner Halensee. „Das sind sozusagen unsere Kinder, die sich nun langsam abnabeln und eigene Wege gehen.“ Allein in Budapest konnten bislang rund dreißig junge Wissenschaftler ungestört arbeiten. „Die Forscher müssen wieder die Hoffnung haben, dass sie vor Ort etwas machen können“, meint Joachim Nettelbeck. „Sonst wird der Brain Drain nicht zu stoppen sein.“
Er berichtet von einem enormen Anpassungsdruck auf die osteuropäischen Wissenschaftler. Wer Karriere machen will, muss ins Ausland gehen. „Um eine Einladung zu bekommen, bleibt jungen Leute kaum etwas anderes übrig, als die Themenwahl am Mainstream der westeuropäischen Forschung auszurichten“, sagt er. „Am Collegium Budapest können die Fellows und Stipendiaten hingegen ihre Themen selbst wählen.“
Seit 1996 leiden die ungarischen Hochschulen unter erheblichen Kürzungen. Auch drängt die Regierung darauf, sie zu straffen. Allein in Budapest gibt es 21 Hochschulen und Colleges. Ende der 80er Jahre gab es im ganzen Land mehr als 90 Hochschulen, davon viele mit weniger als 500 Studenten. Heute hat Ungarn 17 staatliche Universitäten, 13 staatliche Colleges, 26 kirchliche Hochschulen und sechs Colleges, die als Stiftung verwaltet werden. „Zwar sind die Labore meist gut ausgestattet, aber kaum eine staatliche Universität kann ihren Gästen den Lebensunterhalt bieten“, meint Eörs Szathmáry. „Das Collegium ist eine Insel. Wir können die künftigen Eliten einladen und auf diese Weise ein tragfähiges Netzwerk knüpfen.“ Die Gruppe zur Molekularbiologie setzt sich nicht nur aus ungarischen Forschern zusammen. „Die jungen Wissenschaftler reisen aus der ganzen Welt an“, erzählt Szathmáry. „Sie kommen wegen des herausragenden intellektuellen Klimas.“ Die VolkswagenStiftung unterstützte bislang auch Projektgruppen zur theoretischen Evolutionsbiologie, zu Sprache und Evolution, zur Evolution der Bewegung sowie zur Evolution des Gehirns und der Kognition.
Mit der Entscheidung, die Budapester Molekularbiologen ein Jahr lang zu fördern, beschritt die VolkswagenStiftung ungewöhnliche Wege. „In der Regel wenden wir uns an die Stiftung, wenn es um interdisziplinäre Projekte zwischen den Geisteswissenschaften und den Sozialwissenschaften geht“, sagt Professor Dieter Grimm, der Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin. Er leitet das Forschungsvorhaben „Roles, Identities, and Hybrids. Multiple Institutional Cultures in Southeast Europe within the Context of European Unification“, das am Centre for Advanced Study in Sofia (CAS) läuft. Die Volkswagenstiftung bewilligte im Juni 2003 dafür 270.000 Euro. Grimms bulgarischer Partner ist der Kulturwissenschaftler Dr. Alexander Kiossev. „Bei diesem Projekt geht es darum, ob die südosteuropäischen Völker eine eigene Identität in die europäische Vereinigung einbringen können“, erläutert er. „Der Balkan ist eine Region mit unzähligen Ethnien und Völkern. Eine wechselvolle Geschichte hat die Regionen geprägt“.
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