Die Kapitel über Mitarbeit an einer Bilddatenbank und interdisziplinäre interurbane Kooperation sowie die grundsätzlichen Erörterungen lassen bereits erahnen, welche neuen historischen Sehweisen sich daraus insgesamt ergeben können. Es braucht hier nicht nochmals die ganze Palette von nunmehr realisierbaren Möglichkeiten diskutiert zu werden: Verbindung von hypermedialen Textbausteinen mit Sound und Bildsequenzen, Dreidimensionalität, Online-Aktualisierung, Bereitstellung kompletter Lehr- und Lerneinheiten auf CD-ROM und/oder beziehungsweise in Kombination mit Webseiten.
Die neuen historischen Sehweisen seien vielmehr an einem konkreten laufenden Beispiel dargelegt. Aufgrund einer erfreulichen Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesverein für Heimatpflege München war es vor einiger Zeit gelungen, die beinahe 1300 in dessen Regie sukzessive photographierten und dokumentierten Votivtafeln der Wallfahrtskirche Sammarei bei Passau in digitalisierter Form auf dreizehn Photo-CD-ROMs nach Berlin zu erhalten, dazu die gesamte Dokumentation auf Papierkopien. Im Zusammenhang mit mehreren einschlägigen Lehrveranstaltungen interessierten sich verschiedene Teilnehmer für längerfristige Erstellungs- und Auswertungarbeiten. Als erstes musste eine Bilddatenbank angelegt werden. Jeder / jede von den Zugelassenen hatte in der Regel zwei Photo-CDs, also zweihundert Tafeln zu bearbeiten.
Ausgehend von der quantitativ-seriellen französischen Mentalitätsgeschichte (Cousin 1983 mit mehr als 4000 untersuchten Votivtafeln aus der Provence) sowie eigenen Vorarbeiten wurde in Kooperation mit Informatikern von der Universität Halle ein in Java programmiertes interaktives Eingabeformular entwickelt. Wie dort aus den verschiedenen Eingabe-Fenstern (Bildauswahl, Bildbeschreibung, Votivtafeltext, Kommentar usw.) sowie den unterschiedlichen Pulldown-Menüs (Votationsanlass, Votanten, Gebetshaltung, PatronIn, Bildrahmen, Bemerkung, Herkunft, Material, Zustand, Grösse, Inventar-Nummer, Jahr der Entstehung) hervorgeht, gibt es für jede Tafel einheitlich eine kleine und eine grosse, das heisst eine niedrig- und eine hochauflösliche Bildversion.
Zu unserem Teil der Arbeit gehörte nun allerdings nicht nur die historisch-quellenkritische Eingabe sämtlicher Kriterien inklusive die korrekte Bildbeschreibung, Votivtafeltext-Wiedergabe, Jahreszuweisung usw., sondern ebenso, mittels Mauszeiger die "überirdische Sphäre" zu definieren. In der interaktiv aufrufbaren Grossversion wurde zu diesem Zweck mit dem Mauszeiger der Innenseite der in der Regel durch ein Wolkengebilde vom irdischen Geschehen getrennten Patronatssphäre nachgefahren und die hierbei einzeln angeklickten Merkpunkte abgespeichert. Wie nun einer jeden Bildausgabe aus dem Bilder-File zu entnehmen ist, berechnete das Programm anschliessend den prozentualen Anteil der überirdischen Sphäre am Gesamtbildinhalt (= 100 Prozent).
Auf höchst elegante und bisher so nicht mögliche Weise kann nun mit Leichtigkeit die Verifizierung oder Falsifizierung der (Cousin'schen) "Dechristianisierungsthese" vorgenommen werden. Sobald die gesamte Bilddatenbank steht, wird das Programm eine entsprechende Statistik über alle knapp 1300 Tafeln von der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis heute graphisch darstellen. Weitere von je einem Interessierten aus der Gruppe in Angriff genommene Fragestellungen betreffen die Entwicklung der Farbsymbolik im gleichen Zeitraum, zum Beispiel der Farbe Blau. Hierbei werden nicht nur die bereits zusammengestellten Kollektionen einschlägiger Literatur und Online-Links zu Rate gezogen, sondern es wird ebenso auf die CD-ROM-Sammlung zurückgegriffen, so etwa auf Zitate von Mitgliedern des Blauen Reiters zu theoretischen Fragen, darunter auch zu "Farbe". Noch andere widmen sich grundlegenden historiographischen Fragestellungen, zum Teil in Anlehnung an die Antwort auf die Herausforderung durch die neuen medialen Technologien.