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"Verharmlosung des Holocaust? - Jura-Examen behandelte Erschießungen - Kandidaten mussten einen Diebstahl vor einer Massenexekution beurteilen"

Unter dieser Überschrift erschien vor kurzem ein Artikel im "Tagesspiegel". Die Autorin setzte sich darin mit einer Prüfungsaufgabe im sächsischen Staatsexamen auseinander, die ein Geschehen in einem Konzentrationslager zum Gegenstand hatte. Zum einen ging es um die Strafbarkeit eines Häftlings, der aus Ärger über einen Mithäftling dessen Mütze versteckte, woraufhin dieser wegen Fehlens der Mütze beim Appell erschossen wurde. Zum anderen ging es um die Strafbarkeit des Lagerkommandanten und eines Soldaten aufgrund einer vom Kommandanten angeordneten Massenexekution namens "Erntefest" im Jahre 1943. Strafbarkeit wegen Völkermordes war ausdrücklich nicht zu prüfen. Es hatte im nachhinein insbesondere wegen dieses Umstandes und der "versachlichend- banalisierenden Sprache" Proteste vor allem von Seiten eines Anti- Rassismus-Büros in Leipzig gegeben.

Die Autorin des Artikels schloß sich der Kritik an. Zwar gab sie die Ansicht des sächsischen Justizprüfungsamtes wieder, der Sachverhalt sei eine Zusammenstellung zweier realer Fälle gewesen und habe den Studenten Problembewußtsein abverlangen wollen. Insbesondere war sie aber der Ansicht, daß man sich in fünf Stunden unter Zeitdruck mit einem solch komplexen Fall nicht auseinandersetzen könne. Dies möchte ich zum Anlaß nehmen, um über die meines Erachtens notwendigen oder sinnvollen Inhalte von Examensklausuren nachzudenken.


Praxisbezug

Am Jurastudium und auch am Staatsexamen wird ja gerne kritisiert, sie seien zu "praxisfern". Daran ändert vorliegend auch nichts, daß der Fall einen sehr realen Hintergrund hatte, da davon auszugehen ist, daß ein durchschnittlicher Absolvent mit dieser Problematik in seinem zukünftigen Berufsleben nicht mehr, auch nicht in Den Haag, in Berührung kommen wird.

Dennoch tun zumindest die Justizprüfungsämter meines Erachtens richtig daran, keine "Alltagsfälle" im ersten Examen abzuverlangen. Diese weisen naturgemäß kaum Schwierigkeiten auf, die man im Examen abprüfen könnte, an solchen Fällen könnte man kaum die Eignung zur Ausübung eines juristischen Berufes feststellen. Dies wird man in der Regel erst bei komplexeren und komplizierteren Sachverhalten einigermaßen zuverlässig beurteilen können, da es hier nicht mehr um stereotyp heruntergespultes Fachwissen, sondern um kreativen Umgang mit der juristischen Materie geht.

Aber auch aktuelle Fälle mit komplexeren Hintergrund spielen zurecht keine dominierende Rolle im Staatsexamen. Zwar gehört es auch zum Handwerkszeug, sich auf dem Laufenden zu halten und aktuelle Streitfragen zu verfolgen, es kann jedoch angesichts einer 30-40jährigen Berufslaufbahn nicht darum gehen, Momentaufnahmen des Wissens abzuverlangen. Was vor 20 Jahren juristisch umstritten war, ist heute zumeist geklärt. Die Argumente von damals sind kaum noch wichtig, wem von den damaligen Examenskandidaten nützt es, daß er sie heute noch kennt?


Problembewußtsein

Das Leitbild der Juristenausbildung ist nach wie vor nicht der berufsfertige, sondern der berufsfähige Jurist. Also nicht einer, der vom ersten Tag an eigenständig jede Art von Fällen als Anwalt, Richter oder Verwaltungsbeamter bearbeiten kann, sondern (da ersteres eine viel zu lange Ausbildung erfordern würde) jemand, der sich in jedes Problem aus diesem weiten Betätigungsfeld in der nötigen Zeit einarbeiten kann. Die Fülle der möglichen juristischen Tätigkeiten macht es erforderlich, daß man ein gewisses Grundlagenwissen in den Kerngebieten und das juristische "Handwerkszeug" mitbringt, darüber hinaus aber auch ein sogenanntes "Problembewußtsein" besitzt. Das man also einem Fall schnell ansieht, wo er problematisch ist und nicht schon mit Standardwissen gelöst werden kann, sondern genauer geprüft werden muß. Das man Phantasie und Kreativität aufbringen kann, unkonventionelle Wege zu gehen. Das man schließlich auch einen gewissen Instinkt aufbringt, was richtig und was falsch sein muß.

Auf diese Weise sollten junge Examenskandidaten auch in der Lage sein, neu auftauchende Rechtsfragen selbständig beurteilen und nachvollziehen zu können, z. B. die Fragen, die sich vor 10 Jahren im Zuge der deutschen Wiedervereinigung stellten oder heutzutage in der zunehmenden Verbreitung elektronischer Datenübermittlung stellen. Demnach ist es zurecht Ziel der Justizprüfungsämter, die Kandidaten in erster Linie auf das Vorhandensein dieser Fähigkeiten und insbesondere auf das Vorhandensein des Problembewußtseins hin zu prüfen. Solche Fälle können aber erst recht nicht Fälle aus dem "normalen Leben" sein.


Realistische Probleme

Bei Examensfällen sollte es aber ebenfalls nicht um Fälle aus dem Wolkenkuckucksheim gehen. Vielmehr sollte es um Dinge gehen, die sich die Examenskandidaten auch vorstellen können. Nur dann kann man von ihnen erwarten, daß sie die innewohnenden Probleme wirklich aufgreifen und verstehen. Sie sollen nicht abstrakte Theoriegebäude errichten, sondern konkrete, real vorstellbare Fälle lösen können. Sie sollen z. B. in der Lage sein, sich vorzustellen, was sie in der Praxis als Richter alles bewirken, aber auch anrichten können. Es muß im Examen in erster Linie um realistische Fälle gehen.

Nach alledem wird es den Leser nicht überraschen, daß ich einen Fall wie den oben vorgestellten im Examen ausdrücklich befürworte, insbesondere im Strafrecht, wo es darum geht, über Menschen und ihr Tun zu richten. Ein solches Geschehen sollte kaum einen Menschen kalt und ohne Emotionen lassen, wie dies vielleicht bei einer Aufgabe mit Eigentums- und Verkehrsdelikten der Fall wäre. Im Fall des Lageraufsehers muß man sich in den inneren Widerstreit zwischen Gewissen und Angst im Falle einer Befehlsverweigerung hineinversetzen, wenn man ihm strafrechtliche Vorwürfe machen will. Auch im Falle des Häftlings muß man sich genau fragen, inwiefern man ein moralisches Verhalten in solchen Extremsituationen erwarten darf. Der Fall zwingt einen gerade dazu, nicht nach "Schema F" vorzugehen, nicht einfach nur Meinungen nachzuplappern, sondern selbst Stellung zu beziehen. Unter diesem Aspekt halte ich es denn auch für gerechtfertigt, nicht noch zusätzlich den zumeist unbekannten § 220a (Völkermord) abzuprüfen, sondern es bei der hinreichend schwierigen Auseinandersetzung mit der Schuld im Einzelfall zu belassen.

Für Berlin erklärte JPA-Präsident Jürgens auf Anfrage des Tagesspiegel, Berlin beabsichtige nicht, eine vergleichbare Aufgabe zu Prüfungszwecken zu verwenden. Ich jedenfalls würde das bedauern.

Philipp Franck

(erschienen im DEFO-Info Nr. 42 vom WS 2000)



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