Bei meinem Aufenthalt auf Juist am vergangenen Wochenende habe ich mich nach einigem Stöbern dazu entschlossen, die Deutschstunde von Siegfried Lenz zu kaufen und zu lesen. Ich bin darauf gekommen, weil ich auf dem Videoworkshop, an dem ich vor ein paar Wochen teilgenommen habe, Charles Goodwin bei einem Gespräch über Schiffe von Lenz’ Feuerschiff erzählt habe – eines meiner Lieblingsbücher. Während ich ihm davon erzählte, hat mich die Dramatik der Handlung so sehr gepackt, dass ich eine Gänsehaut bekam. Deshalb also der Griff zum Lenz im Buchladen.
Ein guter Griff, wie sich bald herausstellte. Besonders hat mich die folgende Passage erfasst, denn sie spiegelt ein Verständnis von Wahrnehmung, das nahezu deckungsgleich mit dem ist, das ich in Anlehnung an Merleau-Ponty in meiner Dissertation verwende. Hier das entsprechende Zitat:
[S. 409] Weißt Du was Sehen ist? Vermehren. Sehen ist Durchdringen und Vermehren. Oder auch Erfinden. Um dir zu gleichen, mußt du dich erfinden, immer wieder, mit jedem Blick. Was erfunden wird, ist verwirklicht. Hier, in diesem Blau, in dem nichts schwankt, in dem keine Beunruhigung steckt, ist auch nichts verwirklicht. Nichts ist vermehrt. Wenn du siehst, wirst du gleichzeitig auch selbst gesehen, dein Blick kommt zurück. Sehen, herrjeh: es kann auch investieren bedeuten, oder Warten auf Veränderung. Du hast alles vor dir, die Dinge, den alten Mann, aber sie sind es nicht gewesen, wenn du nicht etwas dazu tust von dir aus. Sehen: das ist doch nicht zu den Akten nehmen. Man muß doch bereit sein zum Widerruf. Du gehst weg und kommst zurück, und etwas hat sich verwandelt. Laß mich in Ruhe mit Protokollen. Die Form muß schwanken, alles muß schwanken, so brav ist das Licht nicht.
Oder hier Witt-Witt, dies Bildchen, warm durchsonnt: Balthasar hält mir auf ausgestreckter Hand eine Mühle hin, und ich beachte ihn nicht. Da siehst du, wo ein anderer ist, wo etwas anderes ist, da muß eine Bewegung zu ihm hinführen. Sehen ist so ein Tausch auf Gegenseitigkeit. Was dabei herausspringt, ist gegenseitige [S. 410] Veränderung. Nimm den Priel, nimm den Horizont, den Wassergraben, den Rittersporn: sobald du sie erfaßt hast, erfassen sie auch dich. Ihr erkennt euch gegenseitig. Sehen heißt auch: einander entgegenkommen, einen Abstand verringern. Oder? Balthasar meint, das alles ist zu wenig. Er besteht darauf, das Sehen auch Bloßstellen ist. Etwas wird so aufgedeckt, daß keiner in der Welt sich ahnungslos geben kann. Ich weiß nicht, ich habe etwas gegen das Enthüllungsspiel. Man kann der Zwiebel alle Häute abziehen, und dann bleibt nichts. Ich werde dir sagen: man beginnt zu sehen, wenn man aufhört, den Betrachter zu spielen, und sich das, was man braucht, erfindet: diesen Baum, diese Welle, diesen Strand.
In: Lenz, Siegfried ([1973] 2006): Deutschstunde. München: dtv.
Tags: perception, senses, Siegfried Lenz
Ach ja, der Sprecher in dieser Passage ist übrigens der Maler Max Nansen (eine Parallelfigur zu Emil Nolde).>