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[Wilhelm von Humboldt als Sprachwissenschaftler und früher Europäer]



Mit dem Sturz des Direktoriums am 18. Brumaire 1799 erlangte Napoleon
eine neue Machtbasis (Gemälde von F. Bouchot).


Wie zwei Seelen in einer Brust: Die Brüder Humboldt stehen stellvertretend für Deutschlands Zerrissenheit am Beginn des 19. Jahrhunderts. Wilhelm, der Ältere, war Frankreich und Italien zugewandt und zugleich einer der großen Staatsmänner des modernen Preußen. Alexander hingegen zog es in die Welt hinaus: nach Lateinamerika und den asiatischen Teil Russlands. Wilhelm war 1810 maßgeblich an der Gründung der Berliner Universität beteiligt. Berlin stand damals noch im Schatten von Paris und London. So trugen die Brüder Humboldt dazu bei, den miefigen Vorhang, der über mancher deutscher Gelehrtenstube hing, zu lüften. Ein Hauch der weiten Welt rauschte durch ihre Schriften und Ideen.

Jetzt wird eine bislang vernachlässigte Seite Wilhelm von Humboldts neu entdeckt: Sein enger Bezug zu Frankreich. „Als Sprachwissenschaftler beschäftigte er sich mit Griechisch, Latein, den romanischen Sprachen und mit Baskisch“, sagt Markus Meßling, Doktorand am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität. „Später kamen die indianischen Sprachen Südamerikas hinzu, die alt-ägyptischen Hieroglyphen, Sanskrit, Chinesisch und das altjavanische Kawi. Für die Untersuchung einiger dieser Sprachen waren die Materialien und Ergebnisse aus Paris sehr wichtig.“ Der 28jährige Philologe ist ein Experte auf diesem Gebiet: Für seine Schrift „Champollions Entzifferung der Hieroglyphen und die Rezeption in der Schrifttheorie Wilhelm von Humboldts“ erhielt er kürzlich den Preis des Dekans seiner Fakultät für hervorragende Arbeiten zum Studienabschluss. Meßling gehörte auch zu den Organisatoren einer hochkarätigen Tagung, zu der sich Mitte März französische und deutsche Forscher in der Maison de France trafen, um sich über Humboldts Sprachdenken zwischen Berlin und Paris auszutauschen. Eingeladen hatten die Französische Botschaft, das Institut Français, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die kleine Forschergruppe um den Sprachwissenschaftler Professor Jürgen Trabant, der schon seit den 80er Jahren zu Humboldt forscht.

Rund ein Dutzend Spezialisten und dreißig Gäste kamen zusammen. „Die Franzosen sehen Wilhelm von Humboldt vor allem als Sprachwissenschaftler, als Forscher, der durch vergleichende Studien zum Wesen von Sprache und Denken vordringen wollte“, erläutert Sarah Bösch, die in diesem Forschungsprojekt die Rezeption Humboldts in Frankreich untersucht. „Es ist erstaunlich, wie verschieden die Wahrnehmungen diesseits und jenseits der Grenze sind. Deutsche Wissenschaftler sehen in Humboldt vor allem den Bildungsreformer.“ Bevor er in Berlin wirkte, lebte Wilhelm von Humboldt zwischen 1797 und 1801 in Paris. Zeit seines Lebens korrespondierte er mit französischen Kollegen, schrieb für französische Journale über Fragen von Sprach- und Schriftvergleich und im weitesten Sinne Sprache und Denken. „Sprache ist nicht nur eine universelle neuronale Struktur oder Kompetenz“, meint Markus Meßling. „Humboldt verstand sie auch als Ausdruck der Verschiedenheit des Denkens, jede Sprache als eine Ansicht von der Welt.“ Der amerikanische Sprachforscher Noam Chomsky hatte in den 60er und 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Sprache ausschließlich kognitivistisch definiert und sie vor allem als neuronale Anlage verstanden. Seitdem streiten sich die Sprachwissenschaftler: Wie viel Natur und wie viel Kultur steckt in der Sprache? Humboldt untersuchte die Sprache als Tätigkeit des Geistes in ihrer kulturellen Vielfalt. Die Erfahrung des Fremden in anderen Sprachen verstärkte sein Interesse am Sprachstudium: „So hinterließ Baskisch einen tiefen Eindruck auf ihn, weil es ungewöhnlich, fremd und schwer einzuordnen war“, wie Markus Meßling sagt.


Schriftfunde der Napoleonischen Expedition aus Theben.


Ein altes Sprichwort meint: Im eigenen Land gilt der Prophet wenig. Als sich Wilhelm von Humboldt mit den verschiedensten Sprachen beschäftigte, war Frankreich das Zentrum des geistigen Lebens in Eu-ropa. Die französische Revolution hatte ungeahnte Kräfte entfesselt. Napoleon reformierte das Bildungssystem und gründete die Grandes Écoles. Er überzog Europa mit imperialer Gewalt. 1798 landete er in Ägypten, einen Tross von Künstlern und Wissenschaftlern im Gefolge. Die Ägyptologie, die Suche nach den geheimnisvollen Wurzeln der Pharaonen, erreichte eine erste Blüte. 1799 wurde nördlich von Rosette, einer Hafenstadt im westlichen Nildelta, ein seltsamer Stein gefunden: Er trug Inschriften in Hieroglyphen, Demotisch und Griechisch. Mit seiner Hilfe gelang es 1822 Jean-François Champollion, die Hieroglyphen zu entziffern. Die gewaltigen Tempel von Karnak und Luxor begannen zu sprechen.

Die Auseinandersetzung mit dem aus den Folgen der französischen Revolution, im Guten wie im Schlechten, beschäftigte Humboldt, als er antrat, um das preußische Bildungssystem zu modernisieren. Er setzte sich dafür ein, dass die neue Berliner Universität auch einen Lehrstuhl für Sprachwissenschaft erhielt. Der junge Carl Richard Lepsius bekam ein Stipendium an der Akademie, um seine Arbeiten zur Ägyptologie voran zu treiben. Lepsius rüstete 40 Jahre später eine deutsche Expedition an den Nil aus und gilt als Gründer der deutschen Ägyptologie. Aus Enttäuschung über die politischen Entwicklungen in Preußen zog sich Humboldt 1820 aus dem Staatsdienst zurück und widmete sich fortan beinahe ausschließlich dem Sprachstudium. Der Sprachwissenschaft und ihren Zirkeln in Paris blieb er bis zu seinem Tod im Jahr 1835 treu.

Mit den wechselseitigen Bezügen zwischen Wilhelm von Humboldt und Frankreich, die für beide Seiten fruchtbar geworden sind, beschäftigt sich in den kommenden zwei Jahren die Arbeitsgruppe unter der Leitung von Jürgen Trabant. „Die Tagung in der Maison de France war nur ein Anfang. Bis zum nächsten Jahr soll ein Sammelband erscheinen, der die französischen und deutschen Perspektiven der Humboldt-Forschung vereint“, gibt Sarah Bösch einen Ausblick. Er zeigt dann beide Seiten: Wilhelm von Humboldt, der Franzose. Wilhelm von Humboldt, der Deutsche. Wilhelm von Humboldt, der frühe Europäer.

Heiko Schwarzburger

Foto: Archiv
Foto: DdE


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