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Ästhetische Erfahrung

Das impliziert, bei der kulturellen Erfahrung das wieder hervorzuholen, was durch den ,,homologen Kurzschluß`` verschütt gegangen ist. Individualität als Form der Erfahrung legt nahe, die touristische Erfahrung als im weitesten Sinne ästhetische zu fassen. Die Authentifizierung des touristischen Gegenstandes, der Sehenswürdigkeit, ist eine der sinnlichen Wahrnehmung. Das ist ästhetisch im weitesten Sinn, denn obwohl die Wurzel des Wortes ,,ästhetisch`` genau auf die sinnliche Wahrnehmung abzielt, ist das Wort doch mittlerweile mit spezifischen Bedeutungen beladen, die beim Tourismus nicht zwingend zur Anwendung kommen. Wenn man vom Tourismus, wie ihn MacCannell betrachtet, ausgeht, so machen ,,Kunst`` und ,,das Schöne`` nur einen kleinen Teil des Spektrums der Sehenswürdigkeiten aus. Selbst wenn man den Tourismus historisch betrachtet und feststellt, daß er früher im Vergleich zu heute doch etwas mehr mit dem ,,Ästhetischen`` zu tun hatte,gif zielte Tourismus auf eine umfassendere Bildung, die auch die historische und politische Bedeutung der Monumente berücksichtigte. Wenn man Tourismus allerdings nicht mehr isoliert betrachtet, wenn man zum Beispiel die Entwicklung der Reiseliteratur berücksichtigt, so kann man die zunehmende ästhetische Bedeutung der Reise feststellen.gif Verfolgt man die Entwicklung der Literatur, so ist auf der Ebene der repräsentativen Gegenstände durchaus eine Integration nicht-ästhetischer, alltäglicher Gegenstände in die ästhetische Erfahrung zu sehen. Realistische Literatur (d.h., nicht nur die Literatur des Realismus) inszeniert die Erfahrung der Realität als ästhetische. Die back-stage -Sehenswürdigkeiten, die MacCannell so paradigmatisch für die Organisation der modernen Gesellschaft setzt und aus dem Paris-Baedecker von 1900 extrahiert (,,The Work Displays``: Oberster Gerichtshof, Börse, Münzerei, Nationaldruckerei, Gobelinmanufaktur, Tabakfabrik, Leichenhaus, Schlachthaus) finden sich auch in populären Romanen als Schauplätze.gif Es fragt sich, ob sich diese Sehenswürdigkeiten einem generischen Interesse an repräsentativen ,,sozialen Orten`` verdanken, oder ob sie nicht buchstäblich einfach als Schauplätze bekannt und interessant sind. Vielleicht ist das auch die falsche (Henne-Ei-) Frage, besser ist vielleicht überhaupt zu fragen: was ist das Verhältnis von Literatur zu Tourismus?

Es wird hier ein Verhältnis zwischen Literatur und Tourismus problematisch, das MacCannell wegen seiner Reduktion der ,,Information`` auf ihre der Authentifizierung des Gegenstandes bloß supplementäre Funktion entgangen ist. Auf eine gewisse Blindheit bei MacCannell deuten auch die Fälle an, in denen er das Wort ,,ästhetisch`` überhaupt verwendet. Der Hinweis im Baedecker auf ästhetische Elemente in den Work Displays (hier in der Nationaldruckerei) wird als Verschleierung der Anwesenheit von arbeitenden Menschen gedeutet. Der ideologiekritische Zusammenhang dieses Kapitels wird ihm wohl diese Unterstellung eines falschen Bewußtseins suggeriert haben. Davon bleibt allerdings der Begriff der kulturellen Erfahrung relativ unberührt. An den Stellen, an denen MacCannell die semiotische Struktur touristischer Authentifizierung untersucht, interessiert ihn ein Effekt, dessen Erfahrung ich als ästhetische bezeichnen würde. Soweit MacCannells Analyse als gegenseitig aufeinander bezogene Komponenten der touristischen Erfahrung marker und sight herausarbeitet, berücksichtigt das im Gegensatz zu Boorstin immerhin die Wichtigkeit der Erfahrung des Akteurs im Prozeß.


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Ulrich Brinkmann
Tue Jul 8 19:04:01 MET DST 1997