Die Individualität der Erfahrung fordert jedoch eine genauere Analyse der Mechanismen, die zur Motivation des Touristen führen. Wie sieht die Produktion einer ästhetischen Erwartungshaltung aus? Das ist letztlich die Frage nach der Funktion des Tourismus, die von MacCannel ja als Herstellung eines ,,place for unattached individuals in modern society`` bezeichnet wird, in dem einem solchen Individuum ermöglicht wird ,,to construct totalities from his disparate experiences``. Diese Funktionalisierung basiert, wie wir schon festgestellt haben, auf einer ungenügenden Differenzierung des Begriffs ,,Kultur``. Eine Neukonzeptualisierung müßte zuallererst untersuchen, wie in dem, was MacCannell ,,marker`` nennt, ein Verlangen produziert wird, an den entsprechenden Ort zu fahren und die Sehenswürdigkeit zu authentifizieren.
Der Modell der ,,cultural experience`` in seinen drei Komponenten Modell, Einfluß und vermittelndem Medium, kommt bei MacCannell einer solchen Fragestellung noch am nächsten.
Das Modell ist gewissermaßen ein abstrakter, idealer Typ, der im Medium konkretisiert wird und durch dessen Vermittlung seinen Einfluß ausübt. Wie dieser ideale Typ nun zu seinem Einfluß kommt, ist bei MacCannell als selbstevident nicht weiter erklärt: Typisches Verhalten bezieht sich automatisch, d.h. in der soziologischen Homologie, auf den Idealtypus. Das entspricht der Herleitung des Konzepts des model von Erving Goffman, der damit in einer umgekehrten Interessenlage die Erweiterung des individualpsychologischen Rahmens betreibt: diese möchte damit - vom Endbefund her - das Typische des Verhaltens in seiner sozialen Determiniertheit erklären. Die spezifische Funktion kultureller Repräsentationen, vor der Auswirkung auf das Verhalten erst einmal eine ästhetische Erfahrung zu bewirken, wird bei MacCannell in der Übernahme nicht zureichend berücksichtigt.
Allerdings stellt MacCannell auch fest, daß das vermittelnde Medium eine ,,moral structure`` hat,
such that it takes the stance of being neutral or disinterested. Models for individual 'personality,' fashion and behavior are conveyed in motion pictures, or example, but if there is any suspicion that mannerism, affectations, clothing or other artifacts were put before the audience for the purpose of initiating a commercially exploitable fad, the fad will fail. [...] What ever the facts in the case, the medium must appear to be disinterested if it is to be influential, so that any influence that flows from the model can appear to be both spontaneous and based on genuine feelings.
MacCannell ahnt, daß das Medium über eine gewisse Eigengesetzlichkeit verfügt. Die Funktion als model darf gerade nicht vordergründig sein, sonst ist die Effektivität dahin. Die ,,moralische Neutralität`` hat dieselbe Funktion für den ,,Einfluß`` wie der ästhetische Schein für die Ideologie und die Ritualität für das Gesellschaftliche kultureller Bedeutung: sie verschafft dem Irrationalen oder Unbewußten seinen Ort der Wirksamkeit. Was jeweils fehlt, ist ein Modell des Erfahrungsprozesses auf individuellem Niveau.
Die Neutralisierung der Normativität des ,,Du sollst`` kann auch als
die Verhüllung der normativen Idealität des Modells in einer
ästhetischen Erlebnishaftigkeit beschrieben werden. Weil diese Erlebnishaftigkeit
nur supplementär funktionalisiert ist, bleibt das ,,wie`` dieser Erfahrung,
also die konkrete Funktionsweise, bei MacCannell ausgespart. Andererseits
ist sie so wichtig, daß MacCannell an einer Stelle von der Information
über das touristische Objekt die Leistung fordert, dasselbe erst interessant
zu machen. Auch für MacCannell ist die Wirkung ästhetischer ,,Objekte`` die zentrale
Schnittstelle für die Erklärung von Kultur - und ihres stand-in ,
des Tourismus.
MacCannells Konzeptualisierung des Tourismus ist also insofern hilfreich, als sie die ästhetische Erfahrung zentral macht für die Relevanz der Kultur (das kann natürlich auch ein Effekt der Wahl des Themas Tourismus sein). Sie weist aber gerade an dieser zentralen Stelle blinde Flecken auf, die aus dem spezifischen Gesellschaftsmodell und der Funktion, die Kultur in diesem Gesellschaftsmodell einnimmt, resultieren. Daß sie überhaupt ein Gesellschaftsmodell in Anschlag bringt, das der Analyse der Spezifik moderner Kultur eine Schnittstelle zu verschaffen sucht, muß man MacCannells ,,new theory of the leisure class`` zugute halten.
Will man hinter diesen Horizont nicht zurückfallen, so wird die weitere Analyse des Tourismus in zweierlei Hinsicht eine kritische Neuformulierung von MacCannells Ergebnissen erfordern:
Die narrativen Strukturen und die semantischen Effekte sind natürlich in ihrer gegenseitigen Konstituierung zu betrachten.
Mein Vorgehen in der Beantwortung dieser beiden Punkte wird die Durchführung des letzteren sein, und zwar in der konkreten Analyse literarischer Texte auf dem Hintergrund der theoretischen Fragestellung. Die kulturelle Funktion des Tourismus kann letztlich nur beschrieben werden im Vergleich mit der Funktion von Texten, die für seine Konstitution grundlegend sind. Daß diese Perspektive neue Dimensionen für Funktion der Texte eröffnet, ist zu erwarten.
Von daher ist eine kritische Befragung der Theorien literarischer Wirkung ein dritter Punkt, der hier zur Bearbeitung ansteht. Dies wird sich im Rahmen der Vorgaben abspielen, die die Analyse der Texte leiten sollen.