Wie schon angedeutet, gewinnt MacCannell in der Analyse der Erfahrung des Tourismus (erst als Authentifizierung innerhalb einer front-back-Relation, dann als Authentifizierung in einem Marker-Sight-Verhältnis) einen Zugriff auf die gesellschaftliche Funktion des Tourismus. Dieser Zugriff ist allerdings bestimmt von den Einschränkungen, die sich aus seinem Kulturbegriff ableiten lassen.
Für MacCannell hat Kultur eine die Gesellschaft integrierende Funktion.
Nach Emile Durkheim hält die symbolische Organisation, im Gegensatz
zur ökonomisch-materiellen, die Gesellschaft zusammen und ermöglicht
ein soziales Leben. Wie bei vielen anthropologischen Gesellschaftskonzeptualisierungen
ist das ein organischer Entwurf. Trotzdem versucht MacCannell, innerhalb
des anthropologischen Paradigmas, der Spezifik des Tourismus als moderner
Kulturerscheinung gerecht zu werden. Der Vorteil eines anthropologischen
Zugriffs ist ja, daß ,,Kultur`` im Gegensatz zu empirisch-soziologischen
Ansätzen zentral gemacht werden kann. Der Nachteil ist, daß er homogenisierend
wirkt. MacCannells Versuch, über den Marxschen Fetischbegriff eine
Verbindung zu einer kritisch-historischen Gesellschaftstheorie herzustellen,
gelingt wegen dessen Marginalität in Marx' Denken nur unzureichend.
Die Differenz zwischen der Wirkungsweise des Fetisch als Gegenstand
der Objektfixierung und der eine communitas herstellenden
Funktion des Rituals bleibt unberücksichtigt - ihre Gemeinsamkeit,
für das Individuum einen Kontrollverlust anzuzeigen, steht zu sehr
im Vordergrund.
Das anthropologische Kulturmodell sieht eine Homologie vor zwischen
der symbolischen Struktur und der Gesellschaftsstruktur. Auf dem symbolischen Niveau wird gewissermaßen vorexerziert, welche
Muster die gesellschaftliche Organisation tragen. Symbole verbinden
das Individuum mit der Gesellschaft, stellen Verbindlichkeiten her.
MacCannells Modellierung der ,,cultural experience`` als bestehend aus
einem model , dessen influence sich in der Rezeption
als Muster für Rollenverhalten niederschlägt, überträgt dieses Verhältnis
lediglich auf die Moderne. Die Modernisierung besteht in der komplementären
Beziehung, die ,,Kultur`` zur ,,Arbeit`` eingeht. Kulturelle Symbole sind
dadurch bestimmt, daß ,,this ritual removal of culture from workaday
activities has produced the central crisis of industrial society.``
MacCannell zitiert Sapir:
The great cultural fallacy of industrialism, as developed up to the present time, is that in harnessing machines to our uses it has not known how to avoid the harnessing the majority of mankind to its machines. The telephone girl who lends her capacities, during the greater part of the living day, to the manipulation of a technical routine that has an eventually high efficiency value but that answers to no spiritual needs of her own is an appaling sacrifice to civilization.
Die spezifisch moderne Variante sieht also eine Trennung zwischen symbolischem und materiell-technischem Bereich in der Gesellschaft. Das eigentlich Gesellschaftliche für das Bewußtsein des Einzelnen verlagert sich in die Kultur bzw. die ,,kulturelle Erfahrung``.
Das Kennzeichen dieser kulturellen Erfahrung bei MacCannell ist gerade
die Entindividualisierung: deshalb ein Begriff wie 'Ritual'. Ob man
dies als ,,Pflicht`` oder als ,,communitas ``
bezeichnet oder gar als mit ekstatischen Zuständen in Verbindung
bringen will, immer handelt es sich um die Entgrenzung des Individuums,
die Gesellschaftlichkeit in der Übetretung konstituiert. Obwohl MacCannell
von gesellschaftlicher Differenzierung spricht, ist es genau die Differenzierung
des ökonomisch-materiellen Bereichs, die im symbolisch-kulturellen
transzendiert wird und als Repräsentation wiederkehrt. In der kulturellen
Erfahrung ist die Differenz zwischen den (entfremdeten) Individuen
aufgehoben und damit auch die zwischen dem Individuum und sich selbst.
Es würde zu weit führen, die Details von MacCannells Theorie im einzelnen und in ihrer Widersprüchlichkeit hier vorzuführen. Für die weitere Diskussion werden die Individualität, die kulturelle Erfahrung als ästhetische Erfahrung und die Funktion und Wirkungsweise gesellschaftlich erzeugter Bedeutung als zentrale Punkte des weiteren Vorgehens wichtig. Daher wird sich die Kritik an MacCannell im weiteren auf diese Bereiche konzentrieren.