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Individualität

Es zeigt sich, daß MacCannell genau den Aspekt von Individualität braucht, den Boorstin so kritisiert hat. Der individuelle Kontrollverlust ist für MacCannell der Moment der gesellschaftlichen Sinnproduktion.gif Dabei tendiert das Individuum dazu, hinter seiner ,,Erfahrung`` zu verschwinden, oder besser noch, hinter der Struktur der Objekte seiner Erfahrung. Denn die touristische Erfahrung der modernen Differenz als Differenz hat als Erfahrung nur die Funktion, dem Individuum ein Bild der Gesellschaft zu vermitteln, als eine kognitive Form. Mit dem Verschwinden des Individuums in der Struktur gerät auch die Erfahrung aus dem Blick, die das Individuum als Individuum machen kann.

In MacCannells semiotischer Formulierung touristischer Erfahrung reproduziert sich das Problem: die Identifikation von sight und marker durch den Touristen ist eine ja-nein-Operation, gewissermaßen ein Einrasten, bei der die Motivation, die Vorgeschichte der spezifischen Erwartung trotz der Allgegenwärtigkeit des Wortes attraction unter den Tisch fällt.

Anders formuliert: allein die Tatsache, daß der Tourist über seine individuelle Grenze hinausgeht, reicht noch nicht zur Funktionsbestimmung der touristischen Erfahrung. Nimmt man als Extrembeispiel für die kulturelle Erfahrung die rituelle Ekstase (wie in bestimmten Tänzen), so ist Ekstase unter modernen/postmodernen Bedingungen etwas anderes als unter ,,traditionellen``. ,,Für uns`` ist Ekstase (à la Techno-Dance) eine Erfahrung, die als Erfahrung attraktiv ist.gif Die dabei stattfindende Grenzüberschreitung ist eine der individuellen Grenzen der Person, der Kontrollverlust bestärkt das Bewußtsein von den vorhandenen Grenzen (und schiebt sie meinetwegen auch etwas hinaus). In den Ekstasen traditioneller Gesellschaften, so steht zu vermuten, ist es nicht das Individuum, dessen Grenzen im Überschreiten verspürt werden, sondern es werden buchstäblich andere Sphären der Welt erfahrbar.

Das Wort ,,buchstäblich`` nun mag darauf hindeuten, daß es sich hier um eine hypothetische Heuristik handelt. Sie soll klar machen, daß Individualität keineswegs eine natürliche Kategorie ist und daß diese Kategorie in ihrer Verbindlichkeit ein kulturelles Konstrukt ist. Dieses muß selbst mitanalysiert werden, sobald man kulturelle Erfahrung untersucht. Unter dieser Perspektive muß das Problem des Tourismus neu aufgerollt werden. Der Funktion touristischer Erfahrung kann man sich nur unter Berücksichtigung der Individualität als kultureller ,,Form`` nähern.


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Ulrich Brinkmann
Tue Jul 8 19:04:01 MET DST 1997