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[Studienberater Rückert zu den Ursachen für Studienabbrüche in Deutschland - Abbrecherquote auf amerikanisches Niveau drücken]

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Sie arbeiten überwiegend in den Medien, Versicherungen, Werbeagenturen und Computerfirmen. Kaum eine Branche kommt ohne sie aus. Gleichwohl haftet an ihnen immer noch der Makel des Versagens. Berufstätige Studienabbrecher stehen trotz aller individuellen Erfolge zeitlebens unter Rechtfertigungsdruck – besonders in Deutschland, wo die formale Qualifikation einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert hat. Da drängt sich die Frage auf, warum viele Studierende den Fachhochschulen und Universitäten trotzdem vorzeitig den Rücken kehren. Durchschnittlich 27% eines Altersjahrgangs beenden das Studium ohne Abschluss, hat die HIS Hochschulinformations-System GmbH in einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebenen Studie für das Jahr 2002 ermittelt. Dabei zeigte sich, dass die Zahl der Abbrecher und Abbrecherinnen seit zehn Jahren unverändert auf diesem hohen Niveau verharrt. Nahezu unverändert sind auch die fachspezifischen Abbrecherquoten: Während in der Human- und Zahnmedizin sowie in der Veterinärmedizin gerade mal jeweils 8% der Studierenden das Studium abbrechen, sind es in den Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften über 40%. Wer hat Schuld an diesen Missverhältnissen? Oder stellt sich die Frage gar nicht, weil weder die Abbrecher noch die Volkswirtschaft Schaden nehmen? Uwe Nef und Niclas Dewitz sprachen mit Hans-Werner Rückert, dem Leiter der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität, über das komplizierte Verhältnis von Angebot und Nachfrage im Studienbetrieb.

Könnten Studienberatungseinrichtungen zur Reduzierung der Abbrecherzahlen beitragen, indem sie die Beratung effizienter organisieren?

Die Handlungsmöglichkeiten für Studienberatungen sind doch stark eingeschränkt, denn die Studienwahlentscheidungen der allermeisten Leute sind ja schon längst erfolgt, bevor wir überhaupt mit ihnen in Kontakt kommen. Ein besonderes Problem für die Beratung entsteht dadurch, dass ca. 40% derjenigen, die an der Universität studieren, eigentlich keine wissenschaftliche, sondern eine anwendungsbezogene Ausbildung wollen, aber an einer Fachhochschule wegen der begrenzten Studienkapazitäten keine Studienplätze erhalten haben. Zwar wird seit 20 Jahren der Ausbau der Fachhochschulen gefordert, aber er ist nicht in notwendigem Umfang erfolgt.

Mal abgesehen von dieser Schwierigkeit bin ich natürlich grundsätzlich auch der Auffassung, dass man nie zu viel beraten kann. Die Studienberatungsstellen können aber gegenwärtig nicht mehr leisten, weil sie personell überlastet sind. Die Kennzahlen aus den 70er Jahren, nach denen ein Berater pro 3.000 Studieninteressenten eingestellt werden sollte, sind nie erreicht worden. Aber unisono wird seit 20 Jahren die Verbesserung der Beratung gefordert, jetzt auch für die Sekundarstufe II und sogar für die Sekundarstufe I. Fakt ist, dass in den Schulen kein Berufswahlunterricht stattfindet und das Arbeitsamt nur mal eine Person in die zehnten Klassen schickt, die dort erzählt, was das Arbeitsamt so alles macht. Und die Studienberatung der FU kann diesen Job mit fünfeinhalb Stellen für hauptamtliches Personal bei 36.000 bis 38.000 Anfragen pro Jahr nicht auch noch zusätzlich in 200 Berliner Schulen erledigen. Erschwerend kommt hinzu, dass es immer mehr neue Studiengänge und Wahlmöglichkeiten gibt. Da ist es mit einem einmaligen Vortrag nicht getan.

„Man muss einfach akzeptieren, dass Menschen sich umbesinnen.“

Beunruhigt Sie die Abbrecherquote von durchschnittlich 30% an deutschen Universitäten überhaupt nicht?

Natürlich haben die Universitäten den Ehrgeiz, so viele Studierende wie eben möglich zum Abschluss zu bringen. Aber auch unter idealen Studienbedingungen würde es immer noch verhältnismäßig viele Studierende geben, die erst während des Studiums erkennen, dass die Wissenschaft nicht ihre Welt ist. Man muss einfach akzeptieren, dass Menschen sich umbesinnen. Das ist ihr gutes Recht. Die Abbrecherquote beunruhigt mich in der Tat nur mäßig, sie ist an den Fachhochschulen mit 20% nicht höher als im dualen Bildungssystem, die Universitäten liegen 10% darüber. Sogar an den hoch gelobten amerikanischen Universitäten brechen durchschnittlich 20% der Studierenden ihr Studium ab. Das scheint – unabhängig vom System – so eine Art Konstante zu sein. Wenn es uns gelingt, die Abbrecherquote auf das amerikanische Niveau zu drücken, können wir zufrieden sein.

Das dürfte aber in den Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften mit über 40% Abbrechern und auch in der Informatik mit 37% nicht so ganz einfach sein. Weshalb sind die Quoten in diesen Bereichen so hoch?

In den Natur- und Ingenieurwissenschaften sind die permanenten Schweinezyklen der Hauptgrund für die hohen Abbrecherquoten. Immer dann, wenn es einen Mangel an Informatikern und Ingenieuren gibt, schnellen die Immatrikulationszahlen in diesen Fächern rapide an. So wie in der Informatik an der FU: 16% mehr im Wintersemester. Dass die Zunahme mit zeitlicher Verzögerung auf die Abbrecherquote durchschlagen wird, weiß man schon jetzt. Obwohl wir, die Studienberaterinnen und -berater, und auch die Fachvertreter in Studienhandbüchern und Internetveröffentlichungen deutlich auf die außergewöhnlich hohen mathematischen Anforderungen hinweisen, schreiben sich auch viele Studierende in der Informatik ein, die offenkundig nicht über die notwendigen Voraussetzungen verfügen.

In den Geistes- und Kulturwissenschaften und auch in den Sozialwissenschaften sind natürlich andere Gründe ausschlaggebend. Da ist es eher die Diffusität der Studienanforderungen, vor denen viele Studierende kapitulieren. Viele sind damit überfordert, sich Schneisen durch die Literatur und durch die Fächer schlagen zu müssen, vor allem in den Magisterstudiengängen, weil sie bis zu drei Fächer parallel studieren müssen. Sich den Stoff weitgehend selbständig erarbeiten zu können, setzt ein hohes Maß an Selbstmanagementfähigkeit voraus, das viele Leute nicht haben. Und was noch hinzukommt: Die Universität lässt sie mit dem Problem allein. Nachteilig wirkt sich hier aus, dass wir nicht in einer Kultur leben, in der Selbstmanagement, Selbstverpflichtung und das Einhalten dieser Verpflichtungen traditionell verankert sind.

Von HIS wird angemerkt, dass die mangelnde Strukturiertheit des Studienangebots in den Sprach- und Kulturwissenschaften ein gewichtiger Grund für hohe Abbrecherquoten sein könnte. Haben die Dozenten in diesen Fächern kein Interesse am Studienerfolg ihrer Studierenden?

Ich bin sicher, dass auch den Dozenten am Erfolg ihrer Studierenden liegt. Die von HIS angemahnte Strukturierung ist in einigen Fächern einfacher zu leisten als in anderen. In meinem Fach, der Psychologie, geht es zum Beispiel ziemlich gut, Wissensbestände zu systematisieren und zu modularisieren, um am Ende festlegen zu können, was ein Psychologe wissen soll. Ich bin aber eher skeptisch, dass sich das in anderen Fächern auch so einfach realisieren lässt und alle Dozenten das auch wollen. Es wäre uns schon sehr geholfen, wenn alle Studien- und Prüfungsordnungen von überflüssigen Inhalten entrümpelt würden.

Neben den Fächern mit hohen Abbrecherquoten um die 40% gibt es aber auch solche mit extrem niedrigen Werten. Worauf führen Sie es zurück, dass die Medizin mit 7% bei den Männern und 8% bei den Frauen so besonders gut abschneidet? Ist das Medizinstudium besser strukturiert, sind die Studierenden motivierter und qualifizierter als andere?

Medizin ist dieser Sonderfall. Das war schon immer so. Dass die Quote so niedrig ist, liegt wohl daran, dass die Medizinstudierenden ziemlich genau wissen, was sie im Studium erwartet sowie mit dem Lehrstoff und wie er organisiert ist, weitgehend zufrieden sind. Jeder weiß, dass Medizin ein Paukfach ist. Man hat keine Zeit, nach links und rechts zu sehen, man muss sich durchboxen.

Die in der Untersuchung berücksichtigten Jahrgänge mussten noch einen inzwischen wieder abgeschafften Eignungstest bestehen, um zum Medizinstudium zugelassen zu werden. Hatte dieser Test Einfluss auf die Abbrecherquote?

Der Medizinertest hat sicherlich dazu beigetragen, dass diese Stichprobe noch homogener geworden ist.

Sollten Eignungstests auch in anderen Fächern eingeführt werden?

Wenn nicht Fertigkeiten und Fähigkeiten abgefragt, sondern Potentiale ermittelt werden, könnten Tests nützlich sein. Gleichwohl ändert das nichts an der Ausgangslage. Selbst wenn man feststellen würde, dass von den 40% der Studieninteressenten, die lieber an der Fachhochschule studieren würden, die Hälfte für ein wissenschaftliches Studium geeignet wäre, heißt das ja noch nicht, dass sie sich in einem relativ offenen Studienbetrieb wie dem der Universität gut aufgehoben fühlten. Viele würden sich trotz der Eignung für die akademische Freiheit für die Fachhochschule mit ihren kleinen überschaubaren Einheiten entscheiden.

„Studentinnen informieren sich sorgfältiger und ziehen das Studium konsequenter durch.“

Wie bewerten Sie die Tatsache, dass die Zahl der Studienabbrecher wächst, während die Zahl der Studienabbrecherinnen sinkt?

Ganz einfach: Studentinnen bekommen im Vergleich zu früher seltener Kinder, weil sie besser verhüten. Für Frauen waren Schwangerschaften ja immer der Hauptgrund für Studienabbrüche. Angesichts der Schwierigkeiten, mit Kind zu studieren, sind sehr viele ausgestiegen. Auch die Pflege erkrankter Angehöriger war ein häufiger Grund für den Abbruch. Die traditionelle Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern ist für die heutigen Studentinnen passé. Sie informieren sich vor Beginn des Studiums sorgfältiger über ihr Fach als Männer und ziehen es konsequenter und ehrgeiziger durch.

In unserer Beratungspraxis gewinnen wir schon den Eindruck, dass Frauen Informationen differenzierter aufnehmen, klüger bewerten und eher abwägen, während Männer zu der Auffassung neigen:’Sag mir mal, was ich machen soll.’

Vielleicht sind Studentinnen heutzutage auch taffer als Studenten, weil sie die Karriereorientierung, die man ihnen in den letzten Jahren nahe gelegt hat, verinnerlicht haben.

Könnte die Modularisierung der Studieninhalte im Zuge der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen die Abbrecherquote senken?

Das glaube ich nicht. Wie gesagt: In den USA liegt die Quote bei 20%. Und dort sind die Bachelor- und Masterstudiengänge modularisiert. Wegen der studienbegleitenden Prüfungen treten allerdings bestimmte Ängste nicht so massiert auf.

„Es gibt nur zwei sinnvolle Alternativen.“

Plädieren Sie für die Verlagerung von Ausbildungskapazitäten an die Fachhochschulen?

Es gibt eigentlich nur zwei sinnvolle Alternativen. Entweder lenkt man einen Teil der Mittel in die Fachhochschulen um oder man verfachhochschult Bereiche der Universität. Wir wissen aus eigenen Studien, dass 73% der FU-Studierenden eine Berufsorientierung außerhalb der Hochschullehrerlaufbahn anstreben. Wenn man diesem Bedürfnis bildungspolitisch Rechnung tragen will, führt konsequenterweise kein Weg daran vorbei, bestimmte Studieninhalte so zu organisieren, dass Fachhochschule und Universität sich ähnlicher werden.

Ich glaube, dass sie sich dort, wo Bachelorstudiengänge entwickelt werden, zwangsläufig annähern. Für diejenigen Dozenten, die einer anderen Auffassung von Wissenschaftlichkeit und Wissenschaft anhängen, ist der Ersatz von Diplom- und Magisterstudiengängen durch Bachelor und Master natürlich eine Katastrophe. Und diese Leute kann ich gut verstehen, denn das bisherige Hochschulsystem ist nicht so schlecht, wie es die Zahlen suggerieren. Immerhin produziert es jährlich 282.000 Absolventen bei 70.000 Abbrechern, trotz Überlast und all den Härten, die wir kennen.

Können sie sich vorstellen, dass ganze Fächer von der Universität an die Fachhochschule verlegt werden, zum Beispiel die Rechtswissenschaft?

Darüber ist schon viel diskutiert worden. Letztlich ist es eine wissenschaftspolitische Frage. Bei der Rechtswissenschaft kann ich mir das nicht vorstellen, obgleich Teilgebiete des Rechts – wie Wirtschaftsrecht – schon geeignet wären. Der Volljurist wird natürlich weiterhin an der Universität ausgebildet.

... und wo sehen Sie die Zukunft der Lehrerbildung?

Diese Diskussion um die Lehrerbildung an der Fachhochschule hat doch keine Substanz, weil die Eingangsbesoldung nach A 13 im Staatsdienst bislang an das Absolvieren eines Universitätsstudiums geknüpft ist. Mit FH-Diplom steigt man nach A 11 ein. Und mit dem Bachelor steigt man überhaupt nicht ein, solange sich die Landesministerien nicht auf eine einheitliche Eingruppierung verständigt haben. Das bisherige Eingangsgehalt ist für die Standesvertreter der Lehrerschaft verständlicherweise eine heilige Kuh.

Nef / Dewitz

Studienabbrecherquoten für deutsche Studierende an Universitäten nach Fächergruppen und ausgewählten Studienbereichen in Prozent

Studienbereiche Insgesamt männlich weiblich
 
Sprach-, Kulturwiss., Sport
33
38
31

Sprach-, Kulturwissenschaften

41
Pädagogik, Sport
28
 
Jura, Wirtschafts-, Sozialwissenschaften
30
28
31
Sozialwissenschaften, Sozialwesen
30
28
31
Rechtswissenschaften
27
Wirtschaftswissenschaften
31
 
Mathematik, Naturwissenschaften
23
27
18
Mathematik
12
Informatik
37
Physik, Geowissenschaften
26
Chemie
23
Pharmazie
17
Biologie
15
Geoghraphie
36
 
Medizin
8
7
8
Humanmedizin
8
Zahn-, Veterinärmedizin
8
 
Agrar-, Forst-, Ernährungswissenschaften
21
16
26
 
Ingenieurwissenschaften
26
27
19
Maschinenbau
25
Elektrotechnik
23
Architektur
11
Bauwesen
35
 
Kunst
30
27
32
 
Lehramt
14
18
12



Der Psychologe und Psychoanalytiker Hans-Werner Rückert leitet seit 1994 die Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität Berlin. Außerdem ist er Autor praktischer Ratgeber für das Leben im Allgemeinen und das Studium und das Examen im Besonderen. 1999 veröffentlichte er das Buch „Schluss mit dem ewigen Aufschieben“, das nicht zuletzt auch Examenskandidaten viele nützliche Hinweise für den erfolgreichen Studienabschluss bietet. In diesem Jahr ist sein Ratgeber „Studieneinstieg,aber richtig“ erschienen. Auf seiner Homepage bietet Hans-Werner Rückert u.a. Präsentationsmaterial rund ums Lehren und Lernen kostenlos zum Downloaden an:

www.fu-berlin.de/studienberatung/hwr.html

Foto: Ausserhofer, Montage: UNICOM

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