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FU-N 5/2000
Wissenschaft
   

Karibische Autoren in den Metropolen
Europas und Nordamerikas
Manchmal gefrieren die Worte ...

Von Irmelin Ehrig

"Moses weiß nicht ein verdammtes Bißchen über Jamaika – Moses kommt aus Trinidad, das liegt tausend Meilen weit von Jamaika, aber die Engländer meinen immer, daß jeder, der aus West-Indien kommt, Jamaikaner ist."

Moses, das ist der Held aus dem bekannten Roman "The Lonely Londoner" von Samuel Selvon. Der offene westindische Slang ist die Sprache, in der dieses Buch von einem Leben in der englischen Metropole berichtet. Die Geschichte des jungen Kariben Moses spielt in den 50er Jahren, als viele Migranten aus dem Commonwealth, den ehemaligen Kolonien des englischen Empire nach London kamen, um dort ihr Glück zu versuchen.

Dr. Christian von Gagern, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, interessiert sich für die Adaptationstrategien, die karibische Autoren anhand von Protagonisten wie Moses im kühlen Klima nordwestlicher Metropolen wie New York, London, Paris und Amsterdam entwickeln. Wie erleben die Einwanderer das Land, dessen Sprache und Kultur zu der ihren geworden ist? Welche Erwartungen bringen sie mit? Wie gehen sie mit Vorurteilen und Ausgrenzung um? Und welche Vorstellungen von "Integration" resultieren daraus? Das von der VW-Stiftung gesponserte zweijährige Forschungsprojekt (Ende: Jan. 2001) einer "Literaturanalyse von Europa- im Kontrast zu Nordamerikaerfahrungen karibischer Autoren" ist Teil des Forschungsschwerpunktes "Das Fremde, das Eigene": Möglichkeiten und Probleme interkulturellen Verstehens". Neu an Gagerns Ansatz ist, dass er literarische Texte heranzieht, um die Problematik gegenseitigen Nichtverstehens transparent zu machen. Die Romane basieren auf Erfahrungen, die in der Regel selbst eingewanderte Schriftsteller/innen berichten (fast die Hälfte davon Frauen). Gagern geht jedoch davon aus, dass die Analyse literarischer Texte über soziologische Erkenntnisse hinaus geht. Denn die Texte bilden seiner Meinung nach nicht nur die soziale Realität ab, sondern vermitteln – aufgrund von Gestaltung und Perspektivierung durch die Autoren – auch Einblicke in den Prozessder Ideologiebildung.

Titel wie "Nobody’s Hero" (Lefty Barretto), "No Man’s Land" (Roland Brival), "No Telephone to Heaven" (Michelle Cliff), "L’autre qui danse" (Suzanne Dracius-Pinalie), "Never far from nowhere" (Andera Levy) geben mit ihrer dunklen Metaphorik schon einigen Aufschluss über die Selbsteinschätzung der Lage von Migranten. "Manchmal gefrieren die Worte", sagt Moses, "und man muss sie auftauen, um das Gesprochene zu hören." – Doch stehen die Einwanderer wirklich so im Abseits, wie sie sich fühlen?

"Man kann schon nach der Lektüre einiger Bücher feststellen", meint Gagern, "dass die Autoren, wo sie auch leben, immer von ähnlichen Erfahrungen berichten, nämlich dass ihre Protagonisten wegen Herkunft oder Hautfarbe benachteiligt werden, dass sie als Zweitklassige und Unterprivilegierte gelten, die man – wenn überhaupt – mit untergeordneten Jobs abspeist und in Ghettos abdrängt." Allenfalls einem Teil der Einwohner der Metropolen erscheint der Aspekt des Exotischen an ihnen interessant. Deshalb gibt sich mancher Immigrant schließlich als der "Wilde", den man in ihm sehen will. "Andererseits muss man berücksichtigen, dass Leute aus der Karibik aufgrund häufiger Negativerfahrungen extrem sensibilisiert sind. Eine kleine Geste bestärkt bei ihnen leicht das Grundgefühl, dass sie diskriminiert oder abgelehnt werden", stellt Gagern fest. Entsprechend erscheinen die Zielorte der Migration bei den Autoren häufig in einem düsteren Licht. Sie verarbeiten in ihren Texten enttäuschte Erwartungen und Verletzungen. Vielfach zeigt sich auch, dass Mißtrauen und Hass von den Protagonisten erwidert werden, dass Diskriminierung nicht einseitig bleibt.

Dabei kommen die Immigranten zunächst mit der Vorstellung, dass die westlichen Großstädte ein besseres Leben verheißen. Mit Witz und Selbstironie beschreibt Selvon, wie der junge Immigrant Galahad in London ankommt und dem staunenden Moses, der ihn vom Bahnhof abholt, erklärt, dass er außer seiner Zahnbürste nichts mitgebracht habe. Dabei hätten Tabak und Rum, für die die Karibik berühmt ist, ein gutes Startkapital für die Anfangszeit dargestellt. Und das wenige Geld, das er zusammenkratzen konnte, hat er zur Hälfte auf dem Schiff verspielt. Außer Hemd und leichter Hose hat er keine Kleidung dabei, nichts jedenfalls, was den frostigen Temperaturen Londons standhalten könnte. Sobald er Arbeit habe, könne er sich ja alles Nötige kaufen, glaubt er. Moses, der schon länger in London lebt, weiß, wie schwierig es für Leute wie ihn und Galahad ist, Arbeit zu finden. Er fragt den Neuankömmling, ob er sich denn nicht vorher informiert habe. Der antwortet lax: "Oh, man hat mir vieles erzählt, aber Du weißt ja, wie gern die Jungs immer übertreiben. Ich habe nur halb zugehört." Es dauert nicht lange, bis Galahad in London eines Besseren belehrt wird.

Doch bei weitem nicht alle Autoren schreiben mit so selbstironischer Distanz. "Viele schlagen einen eher anklagenden und manchmal auch selbstmitleidigen Ton an", urteilt Gagern. Er untersucht den Zeitraum seit Ende des II. Weltkriegs bis heute. Im Verlauf dessen hat sich die Situation in verschiedener Hinsicht zugespitzt. Der Einwanderungsdruck hat zugenommen und ebenso die Abwehrstrategien seitens der bedrängten Zielländer. Mit fortschreitender Dekolonialisierung der karibischen Inseln in den 60er und 70er Jahren wurden schließlich auch die von England und den Niederlanden beherrschten Gebiete in die Unabhängigkeit entlassen. Doch das bedeutetete auch neue Hürden für die Migration von anderen Bewohnern in die ehemaligen Kolonialmetropolen. Andere Inseln, wie die französischen Antillen oder Puerto Rico behielten dagegen ihren quasi kolonialen Status, was die Migration erheblich erleichtert. Die besondere ökonomische Abhängigkeit der ehemaligen Plantagenkolonien konnte jedoch weder bei den einen noch bei den anderen grundlegend behoben werden und damit auch nicht der Drang zur Auswanderung.

"Keineswegs nur Unqualifizierte zieht es auf der Suche nach Arbeit und Verbesserung des Lebensstandards in die Großstädte der hochentwickelten Länder, sondern durchaus auch Spezialisten sowie Künstler und Intellektuelle, weil sie sich dort mehr Entfaltungsmöglichkeiten versprechen", erklärt Gagern. Denn in der Karibik ist eine Existenz als Schriftsteller nicht so ohne weiteres denkbar. Es fehlen dort die Verlage und die Leserschaft. Eine grundlegende Überzeugung, die die Affinität karibischen Selbstverständnisses zu europäischer Kultur verdeutlicht, geht aus Selvons Roman hervor, wenn Moses erklärt: "Tatsache ist: wir sind Briten, wir haben mehr Recht als irgend jemand sonst in diesem Land zu leben und zu arbeiten, weil wir es sind, die geblutet haben, um dieses Land so reich zu machen, wie es jetzt ist."

So zutreffend diese Feststellung sein mag, zeigt sie doch auch das bestehende Konfliktpotential auf, nicht zuletzt in Bezug auf Abgrenzung oder Verschmelzung von kultureller, nationaler und ethnischer Identität. Zusammengewürfelt aus afrikanischen, europäischen, indischen und indonesischen Bevölkerungsgruppen sowie den Produkten von deren vielfältiger Vermischung fordert die Unabhängigkeit die Entwicklung einer eigenen Identität, obwohl sie über Jahrhunderte streng nach Maßgabe europäischer Bedürfnisse definiert wurde und bei Abwanderung in europäische und nordamerikanische Metropolen erneut in Frage gestellt wird. "Dass sich in diesem Spannungsfeld laufend erfindungsreiche Ansätze und facettenreiche Ausprägungen eigener Kultur bilden, lässt sich vielleicht am eindrücklichsten an der Musikszene verdeutlichen, von Reggae über Salsa bis zum Hip-Hop", meint Gagern.

Unterschiede in der Schilderung von Erfahrungen in New York, London, Paris, Miami, Toronto, Montreal oder Amsterdam sind laut Gagern auf den ersten Blick eher subtiler Art. Doch scheint die fortgeschrittenere Aufsplitterung der US-amerikanischen Gesellschaft in ethnische Pluralität auch mit der Bildung ausgeprägteren kulturellen Selbstbewusstseins einherzugehen.

So gilt für die karibischen Einwanderer immer noch jene von Moses immer wieder hervorgebrachte Maxime, die ihn auch über zwei Fortsetzungen des Romans hinaus durchhalten lässt: "Take it easy".