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[Kofi Annan erhält Ehrendoktorwürde]Deutschland erscheint vielen Deutschen als ein Land voller Probleme. Ausländerfeindlichkeit, Entsolidarisierung, Sparzwänge von der Gesundheits- bis zur Bildungspolitik, Arbeitslosigkeit und vieles mehr ängstigen zu Recht große Teile der Bevölkerung. Doch wie stellen sich dieser Staat und diese Gesellschaft einem Bewohner eines Entwicklungslandes dar? Die FU-Nachrichten sprachen mit dem Bolivianer Louis Zavala-Castro über seine persönlichen Eindrücke von Land und Leuten. Er ist Soziologe und Mitglied des Zentrums für Forschung und Unterstützung der Demokratie (CIAD) und er beschäftigt sich wissenschaftlich unter anderem mit dem Thema Korruption in Lateinamerika. Zavala war in den Semesterferien auf Einladung von Prof. Nitsch und dem DAAD als Gastwissenschaftler am Lateinamerika-Institut der Freien Universität.

Herr Zavala-Castro, wie gefällt es Ihnen in Berlin? Konnten Sie sich gut an der FU einleben?

Ich muss zugeben, dass ich noch nie so zufrieden war, wie ich es jetzt bin. Die Einladung an die FU von Prof. Nitsch hat mir ganz neue Möglichkeiten der Forschung eröffnet. Die Atmosphäre am LAI ist hervorragend und die gute Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus den unterschiedlichsten Fachbereichen sehr anregend. Was ich besonders schätze, ist die sachliche, professionelle Arbeitsweise an der FU. An dieser Stelle möchte ich Prof. Nitsch meinen herzlichen Dank aussprechen, ohne seine Hilfe wäre alles sehr viel komplizierter.

Konnten Sie Unterschiede zwischen dem bolivianischen und dem deutschen Wissenschaftsbetrieb feststellen?

Der Hauptunterschied ist die Offenheit, mit der sich die Fachbereiche hier in Berlin gegenseitig unterstützen. Ein solcher interdisziplinärer Austausch steckt in Bolivien leider noch in den Kinderschuhen. Ich hoffe, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch bei uns die Kooperation zunimmt.

Wieso sind alle so unzufrieden?

In einem früheren Gespräch haben Sie Ihre Verwunderung über die negative Selbsteinschätzung und Griesgrämigkeit der Deutschen geäußert. Können Sie das den Lesern der FU-Nachrichten genauer erklären?

Was mich immer wieder überrascht, ist die negative Grundeinstellung der meisten Menschen in diesem Land. Unabhängig vom Thema werden Lob und positive Aussagen über Deutschland abgelehnt oder zumindest relativiert. Für einen Gast stellt sich die Frage, wieso alle so unzufrieden sind. Die deutsche Gesellschaft ist doch ein hervorragendes Beispiel für hohe soziale Kompetenz, Organisationstalent und Konfliktlösungspotential. Ein schönes, effizientes Land, sehr solidarisch gegenüber ärmeren Ländern, ein Land, in welchem die wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen hervorragend sind und ein Land in welchem die Disziplin der Gedanken zu außerordentlichen Ergebnissen geführt hat.

Sie können doch die Probleme, die es in Deutschland gibt, nicht einfach ignorieren. Wie verhält es sich mit Rechtsradikalismus, Arbeitslosigkeit oder der hohen Steuerbelastung?

Sicher, das darf nicht verschwiegen werden, doch wo gibt es diese Probleme nicht? In meinen Augen sind die Deutschen im Vergleich zu anderen Ländern am wenigsten nationalistisch geprägt. Hier gibt es Menschen, die sich noch nicht einmal trauen, die eigene Nationalhymne zu singen oder mir zuzustimmen, dass das ein schönes Land ist.

Aber betrachten sie die Kriminalität hier: Es ist ein Vergnügen, nachts durch Berlin zu laufen. Ganz anders in Kolumbien: Dort können sie nicht mal um den Häuserblock gehen, ohne Gefahr zu laufen, erschossen zu werden. Oder die alltägliche Höflichkeit in Deutschland, alle sagen sich hier „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“, „Danke“ – alle, sogar der Busfahrer ist freundlich. So etwas gibt es in vielen Ländern einfach nicht. Doch wann immer ich etwas Positives über Deutschland sage, kommt von meinen deutschen Gesprächspartnern ein „ja, aber“.

Disziplin der Gedanken

Wie wirkt sich die ,Disziplin der Gedanken‘, die Sie vorhin erwähnt haben, denn auf die Verhaltensweise der Studierenden aus?

Sie sind sehr intelligent und engagiert. Es sind meist junge, fleißige, tüchtige und disziplinierte Menschen. Gleichzeitig sind sie gegenüber den Professoren kritisch eingestellt. Andererseits geht es den Studierenden hier in Deutschland so gut, dass sie anscheinend überhaupt keinen politischen Willen haben.

Sie empfinden die Studierenden als unpolitisch ?

Total. Das politische Bewusstsein ist hier gleich Null. Wieso hat neulich bei der CDU-Spendenaffäre keiner von den Studierenden demonstriert? Wieso hat niemand eine Aufklärung gefordert? Dabei sind es doch die Studierenden, die in jeder Gesellschaft die Kritiker der bestehenden Verhältnisse sind. Aber ihr seid so zufrieden mit dem Status quo, erhaltet soviel vom Staat, dass ihr gar nichts mehr fordert. Studierende sind hier Besitzstandswahrer. So haben alle Ruhe: der Staat vor kritischen Menschen und angehende Akademiker vor möglichem Verlust ihrer Privilegien.

Sind die von Ihnen genannten Eigenschaften wie Ordentlichkeit, Disziplin und Tüchtigkeit die Tugenden, die die Deutschen im besonderen Maße auszeichnen?

Natürlich sind sie das. Sie sind konstitutives Merkmal dieses Landes. Sehen Sie sich doch die Geschichte dieses Landes an. Deutschland und Berlin lagen vor fünfzig Jahren in Trümmern. Und doch gab es bei der Zivilgesellschaft und den Machthabern eine Übereinkunft. Ein Konsens darüber, dass jetzt alle Leistung erbringen und mitmachen müssen. Im Grunde ist Deutschland stark sozialistisch geprägt. Man spürt eine Neigung zum Mitmachen. Wirtschaftlich ist das System kapitalistisch, aber ideologisch ist hier vieles sozialistisch angehaucht.

Der Staat als Beute

Ist eine solche Bereitschaft zum Aufbau in Bolivien nicht vorhanden?

Nein, die gibt es nicht. In Bolivien ist der Staat für den Staatsbürger eine Beute. Etwas, was erlegt und ausgenommen werden kann. Der Staat ist ein Selbstbedienungsladen, ein Plünderungsobjekt. Hier sehe ich etwas Umgekehrtes. Der Staat gibt den Bürgern die Möglichkeit, in einem Wohlstand zu leben, der anderswo undenkbar ist. Eigentlich sind die Deutschen unglaublich verwöhnt. Ja, ein verwöhntes Volk. Ihr erhaltet so viel, dass es euch gar nicht mehr auffällt, jedenfalls so lange es funktioniert. Erst wenn es fehlt – dann beschwert ihr euch. Ich habe hier in Berlin viele solcher Szenen beobachten können. Ein Beispiel: Eine Rolltreppe wird gewartet. Sie wird gewartet, damit sie ordnungsgemäß funktioniert, damit sie jeder kostenlos nutzen kann. Ich habe mir zehn Minuten Zeit genommen und beobachtet, wie die Menschen reagieren. Sie mussten nur zum anderen Ausgang, dort gab es eine zweite Rolltreppe. Es gab niemanden, der zufrieden war. Niemanden, der es als normal angesehen hat, dass eine solche Maschine gewartet werden muss, niemanden der froh war, dass dies getan wird. Dabei sind es doch gerade diese Kleinigkeiten, die das Leben so viel leichter machen. Dafür muss man natürlich auch zahlen – mit Steuern. Die sind hier vielleicht hoch, im Gegensatz zu anderen Ländern werden sie aber dort eingesetzt, wo es auch sinnvoll ist. Sie verschwinden nicht einfach. Diese Interaktion funktioniert hier doch annähernd perfekt. Ich gebe dem Staat meine Steuern, und dieser gibt mir Fahrradampeln, Radwege, Rolltreppen, Stadtparks, die Möglichkeit zum Studium usw. Es ist schade, dass Deutsche ihre Möglichkeiten nicht nutzen, nicht erkennen, welch gute Startposition sie haben. Das ist eines der schönsten Länder der Welt, es kommt aber immer darauf an, was man daraus macht.

Das Interview führte Kajetan Tadrowski

Foto: Tadrowski

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