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Prof. Dr. Hartmut Zinser ist Religionswissenschaftler, kennt die Sektenstruktur der scientific community und den Markt der Heilsbotschaften. „Religion ist nicht mehr in der Lage, moralische und solidarische Gemeinschaft herzustellen”.


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Prof. Dr. Rainer Kampling, katholischer Theologe, kennt nicht nur den Zusammenhang zwischen Schöpfungstheologie und Gartenpflege. Mit Odo Marquardt sagt er: „Die Welt hat kein Geheimnis mehr, wenn man einer Offenbarungsreligion angehört.”


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Dr. Gesine Palmer, Evangelische Theologin, Religionshistorikerin und -wissenschaftlerin, kennt aus familiärer Erfahrung die Auseinandersetzung mit modernen Naturwissenschaftlern. „Meine erste Veröffentlichung befasste sich mit dem Verhältnis amerikanischer Fundamentalisten zu den Naturwissenschaften.”


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Prof. Dr. Felix von Oppen, neu an der FU, ist theoretischer Physiker, kennt das Quantenchaos, beschäftigt sich mit Festkörperphysik und Nanotechnologie. „Der Begriff ‘Theory of Everything‘ ist ein Marketingtrick der Physik.”


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Dr. Richard Faber, Religionssoziologe, kennt sich an den Schnittstellen von Religion und Wissenschaft gut aus und spricht nicht gern von „Ersatzreligion”. „Eine Einheitswissenschaft, die glaubt, für alles zuständig zu sein und am Ende autoritär verfügen zu können, was Standard sei, ist ein gefährlicher Abgrund.”


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Prof. Dr. Ferdinand Hucho, Biochemiker, findet, dass ein Naturwissenschaftler durchaus religiös sein kann und kennt interessante Leute. Über den Dualismus Leib-Seele muss neu nachgedacht werden. „Dieses Problem wird von außen an uns herangetragen. Wir haben es eigentlich nicht.”

   

[Frage an die Wissenschaft: Wie hast du's mit der Religion?]

[Engel]

Sind Wissenschaft und Religion zwei einander widerstreitende Konzepte? Oder hat die Wissenschaft religiöse Wurzeln und klerikale Strukturen, ist sie gar selbst zur Religion geworden?

Darüber sprachen die FU-Nachrichten mit dem Soziologen Dr. Richard Faber, dem Biochemiker Prof. Dr. Ferdinand Hucho, dem Katholischen Theologen Prof. Dr. Rainer Kampling, dem Theoretischen Physiker Prof. Dr. Felix von Oppen, der Evangelischen Theologin und Religionshistorikerin Dr. Gesine Palmer und dem Vergleichenden Religionswissenschaftler Prof. Dr. Hartmut Zinser.

FU-N Gibt es klerikale, gar sektenartige Strukturen in der scientific community?

Zinser Selbstverständlich! Ich würde sogar noch weiter gehen. Man kann viele scientific communities als okkulte Vereine beschreiben, in denen systematisch Obskurantismus betrieben wird. Sie haben Insiderwissen, das sie vor Outsidern nicht bekannt machen. Das kann sehr leicht dazu führen, dass sie ein besseres und höheres Wissen für sich reklamieren, sich nicht dafür interessieren, was andere Wissenschaften denken und es auch nicht berücksichtigen. Dem Anspruch, grundsätzlich für alle Menschen verständlich zu sein, werden sie nicht gerecht.

Kampling Heißt allgemein verständlich à la Zlatko? So einfach kann man es sich nicht machen. Das wirkt für mich zu sehr nach Intellektuellenschelte. Den Vorwurf der Unverständlichkeit kann ich jedem Maurer machen, sogar meiner sehr liebenswerten Zugehfrau, die mir Vorträge über spezielle Putzmittel hält.

FU-N Ist die Wissenschaft abgesehen von möglichen klerikalen Strukturen eine Art Ersatzreligion?

Palmer Die Idee der Wissenschaft als Ersatzreligion entspricht der Idee des Christentums, dass es das Judentum ersetzen könne. Das Christentum ist ja eine traditionskritische Tradition mit einem anti-institutionellen Kern. Der „wahre” Glaube wird gegen Traditionen, Institutionen und ihre lebenserleichternden Zwecke und Wirkungen gesetzt. Er ist „innerlich” zölibatär, wie es vielleicht zur Arbeitsethik vieler Wissenschaftler passt, aber antiklerikal.

von Oppen Von der Physik wird das Thema „Wissenschaft als Ersatzreligion” hin und wieder als Marketingstrategie benutzt. Der Nobelpreisträger Leon Lederman hat zum Beispiel sein populäres Buch über die Elementarteilchenphysik ‘The God Particle’ genannt. Und dann gibt es die „Theory of Everything”. Da soll man wohl auch religiöse Anklänge mithören.

Faber Ich finde den Begriff ‘Ersatzreligion’ problematisch. Er tut so, als wäre die herkömmliche Religion eo ipso etwas Koscheres, etwas Großartiges, etwas Ehrwürdiges, und als seien neuere Formen nicht richtige Religion. Die so genannte klerikale Verfassung von Wissenschaft würde ich eher elitär oder ordensmäßig nennen, wobei Orden nicht notwendig klerikal und christlich sein muss. Es gibt aber zwei andere gefährliche Abgründe: Der eine ist eine Einheitswissenschaft, die glaubt, für alles zuständig zu sein, um am Schluss auch autoritär verfügen zu können, was Standard sei. Das andere ist ein allzu restriktiver Wissenschaftsbegriff, der nur bestimmte Protokollsätze zulässt, dann aber alles Übrige ausdrücklich dem Mystizismus anheim stellt.

FU-N Bislang gibt es eine Reihe von Argumenten für die These, dass Wissenschaft und Religion doch mehr miteinander zu tun haben als gemeinhin angenommen, dass es also tatsächlich Parallelen gibt. Lassen sich dann überhaupt noch Argumente dagegen finden?

Kampling Mir erscheint es schwierig von Parallelen zu reden. Denn – nimmt man das gelegentlich gebrauchte Wort von der „Priesterkaste der Wissenschaftler“ ernst – geht es um das Selbstverständnis des katholischen Klerikers, bei dem etwas Fremdes dazukommt: das ihm nicht Verfügbare. Ich möchte den Wissenschaftler sehen, der sich selbst unter das Charisma eines Fremden stellt.

Palmer Das muss der sogar. Wenn nicht irgendwo etwas noch nicht Bekanntes, unverfügt Fremdes ist, kann nichts Neues mehr entdeckt werden. Der Gedanke des Neuen ist aber der Leitgedanke der Wissenschaft, deshalb muss es immer noch etwas Unentdecktes geben.

FU-N Das letzte Unentdeckte zu erforschen, hat sich ja nun die Physik aufgemacht. Die „Theory of Everything” hat schon viele Schlagzeilen gemacht mit ihrem Versuch, eine „Weltformel” zu finden. Ist dies der Versuch, „die katholische Kirche der Wissenschaft”, wie die amerikanische Physikerin und Buchautorin Margret Wertheim die Physik nennt, zu retten?

von Oppen Es gibt berühmte, aber wohl verrückte Physiker, die über Seelen in Atomen nachdenken.

Kampling Getaufte oder ungetaufte Atome?

von Oppen Mit der „Theory of Everything” ist es ein bisschen wie mit der deutschen Leitkultur. Sie kommt missverständlich daher, und das ist auch so gewollt. Imperialistisch als Begriff, soll sie eigentlich nur eine Vereinheitlichung verschiedener physikalischer Theorien beschreiben. Was darüber hinaus mitschwingt, ist Marketing, ist ein schönes Label, wie zum Beispiel auch der Begriff der Chaostheorie. Allerdings erfüllen diese Labels auch innerhalb der Wissenschaft eine wichtige Funktion.

FU-N Stichwort Marketing: Es gibt ein naturwissenschaftliches Weltbild mit einer „Theory of Everything”, es gibt religiöse Weltbilder, viele verschiedene Lebensentwürfe und allerhand Heilsversprechen. Ist es inzwischen egal auf dem Markt der Religionen und der Weltanschauungen, wohin man sich wendet, Hauptsache, man wird glücklich?

Kampling Wenn man fragt, ob einer einem naturwissenschaftlichen Weltbild anhängt, ist das nicht an sich schon religiös akzentuiert. Ist das nicht auch eine Überhöhung der Naturwissenschaften, die sie selber gar nicht wollen?

von Oppen Zumindest muss man sich im Kern über die Grenzen verständigen. Aber es gibt auch Grenzen, über die man nicht mehr hinweg kommt. Wo genau diese Grenze aber letztendlich verlaufen wird, das würde ich der Zukunft überlassen.

Zinser Insgesamt findet auf dem Markt der Religionen und Weltanschauungen eine Veränderung statt. Religion ist nicht mehr in der Lage, und es wird gar nicht von ihr erwartet, moralische und solidarische Gemeinschaft herzustellen. Da aber alles, was ich tue, Auswirkungen auf meine Umwelt hat, ist es sicher nicht egal, wem oder was ich mich zugehörig fühle. Viele Gruppen gehen ja so weit, dass ihre spezifische Heilsverkündung sie rechtfertigt zum Töten und Morden.

FU-N Wenn alles, was jemand tut, Auswirkungen auf seine Umgebung hat, dann ist auch nicht egal, was erforscht wird?

Zinser Sicher nicht. Aber das hat auch niemand behauptet.

Palmer Doch. Nur die so genannten weichen Wissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften, müssen sich legitimieren, die harten Naturwissenschaften müssen das nicht.

Zinser Ich kenne keine Wissenschaft, die das so tradiert und sagt, der Wissenschaftler ist aus der Verantwortung innerhalb seiner Forschung entlassen.

FU-N Was in der Öffentlichkeit aber häufig so gesehen wird – besonders in Bezug auf die Fortschritte der life sciences.

Palmer Viele Forscher sind jedesmal empört, wenn die Öffentlichkeit in die Labors schauen und wissen will, was da eigentlich getan wird. Sie meinen, es ginge niemanden etwas an, und ohnehin könnten nur die drei, vier Leute mitreden, die auf dem gleichen Stand sind.

Zinser Da sehe ich die Grenze zum okkulten Verein überschritten.

FU-N Auf Grund der Fortschritte in den Biowissenschaften können geistige Vorgänge, Gedanken, Erinnerungen und sogar Gefühle zunehmend auf chemische Prozesse im Gehirn zurückgeführt werden. Gibt es dann überhaupt noch einen Platz und einen Bedarf für die Seele?

Hucho Das Thema Leib-Seele-Dualismus löst sich im Moment auf. Wir erkennen, das manche Systeme so komplex sind, das sie uns wie etwas Transzendentes vorkommen. Daniel C. Dennet sagt in seinem Buch ‘Consciousness explained‘: Wenn wir das Bewusstsein beschreiben, dann kennen wir es. Einfache Verknüpfungen können wir auch schon relativ problemlos nachvollziehen. Wenn wir allerdings bei 1011 Nervenzellen und 1015 Verknüpfungen sind, steigen sogar die Physiker aus. Dann wird es so komplex, dass wir es nicht mehr beschreiben können, und auf einmal hat es eine Seele.

Palmer Auf philosophischem Gebiet ist die Biochemie offenbar ziemlich rückständig. Sie stellt eine alte theologische Frage, die wir seit Kant nicht mehr stellen: Was ist eigentlich das Wesen von etwas? Warum muss man überhaupt fragen, ob etwas eine neue Substanz ist? Weder als Philosophin noch als Theologin noch als Religionswissenschaftlerin interessiere ich mich für Substanzen.

Hucho Ich stelle diese Frage auch nicht. Ich frage: Was ist der Mehrwert, was ist die Emergenz, was kommt aus diesen komplexen Systemen heraus?

Palmer Sie setzen aber doch einen Dualismus zwischen der Substanz Materie und der Substanz Geist voraus.

Hucho Das wird von außen an uns herangetragen. Wir wehren uns dagegen. Der Letzte, der das gemacht hat, zusammen mit einem führenden Neurobiologen, war Karl Raimund Popper. Der hat solche Bücher über Dualismus geschrieben. Das hat uns sehr geärgert, weil das alles eigentlich dummes Zeug war.

Kampling In der katholischen Kirche sind diese Fragen tatsächlich jetzt Teil der ganz großen Debatte. Denn es werden ja Welt- und Menschenbilder in Frage gestellt. Eine Grundfrage des Christentums ist berührt: Wenn der Mensch nicht schuldig werden kann, braucht er auch keine Erlösung. Es geht aber nicht darum, Forschung zu verhindern oder Forschungsergebnisse zu verdammen: Galilei wurde nicht verurteilt, weil er irgendein Fernrohr erfunden hat, sondern, weil er das, was er sah, anders interpretierte als die Kirche.

FU-N Steigen die Physiker wirklich aus, wie Herr Hucho sagt, wenn eine bestimmte Komplexität erreicht ist, oder kann die Physik da vielleicht einen Schritt weitergehen?

von Oppen Ich denke, es gibt Hoffnung. Viele Physiker gehen in diese Richtung und versuchen, sich diesem Problem zu nähern. Mit neuronalen Netzen wird ja genau das versucht, einfache Modelle für hochgradig vernetzte Systeme zu verstehen. Das große Ziel dabei ist natürlich das Gehirn und das Nervensystem. Aber die Physik steht da noch ganz am Anfang.

Faber Sicher wird sie nie die kulturelle Prägung außer Acht lassen dürfen. Es gibt unendlich viele kulturelle Unterschiede. Es gibt Codes, die sich nicht einfach im Gehirn abspielen, sondern die mit Sozialisation und Emotionsbildung zu tun haben – auch wenn letztendlich alles materiell sein mag, ist doch vieles, z. B. unsere Wahrnehmung von Landschaften, Sternbildern usw. kulturell geprägt.

Hucho Das System ist ja nicht starr, es wird nicht von Genen bestimmt und lebenslang festgelegt, sondern in dieses System speichern wir permanent unsere Umwelt ein, unsere Erfahrung, unsere Sozialisation und unsere Gesellschaft. Und dann gibt es da drin Veränderungen. Das können wir zunehmend materiell nachweisen.

Zinser Die Kategorie Erlösung, die Herr Kampling angesprochen hat, scheint mir ganz wichtig zu sein. Die Naturwissenschaften beschreiben, und das sollten wir als Religionswissenschaftler ja auch. Die Frage nach Schuld und Erlösung ist keine naturwissenschaftliche Frage. Der Stein trägt keine Schuld, weil er nach unten fällt.

Hucho Das Thema Schuld würden wir gerade noch übersetzen in Kausalität. Es gibt eine Kausalität in der Abfolge des Handelns, die man irgendwo reduzieren kann auf die Nerven und ihre Verknüpfungen. Aber wir sind verpflichtet und jederzeit bereit, bei einer gewissen Komplexität eine andere Sprache zu übernehmen und zu sagen: Das ist nicht mein Gebiet, da sind Sie besser. Es sei denn, diese Ebene ist in der Biologie verankert.

Kampling Irgendwie muss diese Ebene ja repräsentiert sein im Kopf.

Faber Das bestreitet heute niemand.

FU-N Das heißt also, dass es über die wesentlichen Dinge eigentlich Einverständnis herrscht: Die Geisteswissenschaften bestreiten nicht die materiellen Grundlagen geistiger Prozesse, die Naturwissenschaften bestreiten nicht die Existenz der „Dinge zwischen Himmel und Erde”, die sich einer wissenschaftlichen Erklärung entziehen – einerlei, ob man es nun Seele nennt oder die Überschreitung einer gewissen Komplexität.

Hucho Deshalb ist diese Debatte eigentlich heute wirklich antik. Inzwischen ist unsere Hauptmotivation auch nicht mehr die 1:1-Beschreibung des Systems, sondern die medizinische Eingriffsmöglichkeit. Wenn wir einen Bewusstseinszustand, Depressionen auf eine begrenzte Zahl von Molekülen zurückführen können, dann können wir Ihnen eine Pille geben, die Sie davor bewahrt, Selbstmord zu begehen. Es gibt jetzt auch Psychopharmaka, die Schizophrene davon abhalten, zu halluzinieren. Ich kenne schwer Schizophrene, die eigentlich in einer geschlossenen Abteilung leben müssten. Die leben aber ausgeglichen, weil sie pharmakologisch eingestellt sind.

Kampling Wenn es dem Menschen möglich ist, eine solche schreckliche Krankheit wie Depression durch Forschungsergebnisse zu beseitigen, ist das sicherlich zu begrüßen. Dadurch stellt sich doch auch ein ganz anderes Urvertrauen in diese Wissenschaft ein. Ich glaube allerdings, dass die Tür erst gerade geöffnet ist.

FU-N Beunruhigt Sie das?

Kampling Nein, ich bin nicht beunruhigt.

Huho Mich beunruhigt das sehr. In Amerika haben wir die happy pills, mit denen man sich auf so ein produktives happy Niveau einstellt. Ich kenne eine Menge Leute in Amerika, die Prozac schlucken.

FU-N Und die damit ihre „Erlösung” nicht mehr in der Religion, sondern in der Wissenschaft suchen?

Faber Es gibt ja eine Medizin, die tendenziell einen religiösen Anspruch hat, dass sie dem Menschen das Heil vermittelt – ganz in Richtung ‘Brave New World’. Nicht nur für religiöse Menschen stellt sich die Frage: Wie verhält man sich zu einem solchen Selbsterlösungsanspruch? Und auch der Fremderlösungsanspruch wird nicht weniger problematisch dadurch, dass ihn jetzt eine solche Wissenschaftsreligion erhebt. Den Anspruch, es müsse jeder permanent happy sein, sehe ich als hochproblematisch an, als eine „kulturelle” Krankheit.

Hucho Das ist kulturell sehr verschieden. Die Amerikaner sehen das ganz anders. Meine amerikanischen Freunde sagen: Why not? Sunny boy und sunny girl sind immer noch die Ideale in Amerika. Das Recht auf persönliches Glück ist dort in der Verfassung verankert. Wenn wir da mit unserer europäischen, deutschen Schwermut daherkommen, dann lachen die immer so ein bisschen.

Palmer Vielleicht kann man das Problem der Verfügbarkeit noch einmal in Zusammenhang mit der Erkenntnis stellen und fragen: Was hält man prinzipiell vom Schmerz, was hält man prinzipiell von Krankheit. In einer Verlautbarung der evangelischen Kirche in Deutschland heißt es: Religion ist eine Kultur des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Unverfügbaren.

Zinser Es gibt ja Religionen, die ein anderes Menschenbild und ein anderes Verständnis von Verfügbarkeit haben. Unsere Tradition der Verfügbarkeit von allem und jedem dringt inzwischen in immer mehr Lebensbereiche ein, wobei man sich fragen kann, welchen Teil die Naturwissenschaften in ihrer jüdisch-christlichen Tradition dazu beitragen.

Kampling Es geht doch um den Versuch, möglichst viel in den Griff zu bekommen. Es geht auch gar nicht um die Ersatzreligion, aber es geht darum, dass Menschen offensichtlich auf Grund der Forschung in der Lage sind, sich ein Leben auch zu gestalten, es lebbar zu machen. Ich finde das faszinierend.

Faber Aber ist das so neu? Wenn jemand raffiniert mit dem Wein umgehen kann, dann bekommt er keine Zirrhose und kann sein Wohlbefinden steigern, dennoch aber die für ein verantwortliches Leben benötigte Nüchternheit verlieren.

FU-N Nachdem wir tief im Drogendschungel gelandet sind mit dem Opium des Volkes, wollen wir Ihnen die Gretchenfrage stellen und vom Selbstverständnis des Wissenschaftlers sprechen. Sollte ein Wissenschaftler areligiös sein, oder kann er ein gläubiger Mensch sein?

Zinser Als Religionswissenschaftler ginge ich ja an eine andere Religion anders heran, wenn ich meine eigene für die wahre Religion hielte. Man muss eine deutliche Trennung zustande bringen, und wenn man das nicht kann, sollte man nicht vergleichende Religionswissenschaften betreiben.

Palmer Die „Weiterentwicklung” einer Kultur zur Wissenschaft muss nicht durch Religion oder Religiosität behindert sein. Es kann auch sein, dass jemand, der religiös ist oder weil er religiös ist, andere Leute sehr viel ernster nimmt als es jemand täte, der glaubt, er hätte die Wissenschaftlichkeit mit Löffeln gefressen. Ich bin gerade noch protestantisch genug, um zu sagen: Ich kann mich nicht auf die Kanzel stellen und sagen, der Herr ist auferstanden.

Faber Es ist ein Unterschied, ob sich jemand im Auftrag einer Kirche, einer Religionsgemeinschaft und nur auf Grund deren Billigung mit Religion befasst oder ob dieser Mensch in unserem Staatswesen allein auf die Verfassung einen Eid leisten muss. Andererseits gibt es natürlich keine voraussetzungsfreie Wissenschaft, selbst die Naturwissenschaft hat u. a. religionsgeschichtlich benennbare Voraussetzungen. Dass schließlich auch Atheismus zur Ideologie geraten kann, haben wir erlebt.

Kampling Ich denke, es steht einem Theologen gut an, wenn er mit dem Gegenstand, den er betreibt, nicht völlig im Hader liegt – statt dicke Bücher über Märchendeutung zu schreiben, die keinen interessieren. Ein Gärtner sollte auch keine Allergie gegen Grünzeug haben. Ob ich religiös bin, weiß ich nicht. Ich bin selbstverständlich katholisch. Das liegt aber daran, dass ich Katholizismus vor allem als Kulturform begreife. Ich würde eventuell den Begriff fromm auf mich anwenden.

Hucho Es gibt definitiv keinen Grund für einen Naturwissenschaftler, nicht religiös zu sein oder antireligiös zu sein. Unter Naturwissenschaftlern finden sich kaum Atheisten, obwohl viele nicht wissen, was es mit alledem auf sich hat. Manche Spitzennaturwissenschaftler sind durchaus sehr religiös. Es gibt – besonders in Amerika – auch Extremfälle, fanatisch religiöse Naturwissenschaftler, die dem aggressiven rechten Fundamentalismus zuzurechnen sind. Wenn aber Naturwissenschaftler eine Neigung zur Religiösität haben, steht dahinter oft einfach das Verlangen nach ideologischen Hilfestellungen.

von Oppen Auch ich sehe keinen überzeugenden Grund, warum ein Naturwissenschaftler nicht religiös sein sollte.

FU-N Diese Ausgabe der FU-Nachrichten erscheint wenige Tage vor Heiligabend – was ist für Sie Weihnachten?

Kamling Weihnachten erinnert an die Zumutung des Christentums – das Geheimnis der Reinkarnation.

Zinser Weihnachten ist ein Feiertag für die meisten Menschen und das deutsche Familienfest – auch für Türken.

Faber Weihnachten ist ein weltweiter und volksvergnügungsmäßiger Ritus, dessen Trittbrettfahrer inzwischen die Kirchen sind. Es bezeichnet Sieg und Niederlage des Christentums.

Palmer Weihnachten ist die ritualistische Subversion des christlichen und nicht mehr christlichen Antiritualismus.

Hucho Weihnachten ist ein deutsches Familienfest – und ein Zeichen dafür, dass es Bereiche gibt, die unsere primitive 1:1-Kausalität überschreiten.

von Oppen Ich verbringe Weihnachten dieses Jahr am Weizmann Institut in Israel und daher eher mit Vorträgen als mit Predigten.

Dieser Beitrag ist die Zusammenfassung einer dreistündigen Diskussion.

Moderation: Susanne Weiss, Anke Ziemer
Fotos: Dietrich von Richthofen

 
 
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