next up previous
Next: Henry James und der Up: Horizont: Kulturtheorie und Tourismus Previous: Archäologie des Tourismus

Kultur und Ästhetik

Luhmanns systemtheoretische Revision der Institutionen ist nun sehr nützlich, wenn es um die taxonomischen Aspekte der Rekonstruktion geht. Es lassen sich darüber weitgehende Differenzierungen vornehmen und im Rahmen von Systemkonstellationen auch komplexe Veränderungen nachzeichnen. Jedoch bleibt das auf die gewählten Phänome vorerst immer eine Außenperspektive. So sehr sich auf diesem Hintergrund der Tourismus im Verhältnis zur Literatur als kulturelle Form der Individualität verarbeiten läßt, so wenig wird dadurch deutlich, wie sich die inneren Beziehungen dieser kulturellen Felder in der ästhetischen Erfahrung darstellen. Wie wird der Leser zum Touristen? Die systemtheoretische Perspektive macht deutlich, daß es sich bei Leser und Tourist um Formen der Individualität handelt, ja sogar, daß es um eine ästhetische Erfahrung geht, deren Funktion interessant ist. Wie allerdings genau der Leser zum Touristen wird, kann auf diesem Hintergrund nur eine genaue Analyse der ästhetischen ,,Objekte`` klären. MacCannell hatte das ja auch schon versucht mit seiner Semiotik des Tourismus, seine Analyse der ,,kulturellen Erfahrung`` war aber gerade in dieser Hinsicht der Übertragung vom marker zum sight zu unspezifisch.

Auf zwei Ebenen müssen daher Modelle gesucht werden:

  1. Auf kulturtheoretischem Niveau ist ein Modell gefragt, das die Funktion von ,,Kultur`` erklärt, also - unter neuzeitlichen Bedingungen - die Funktion individueller ästhetischer Erfahrung bestimmbar macht.
  2. Komplementär dazu und die Auswahl des kulturtheoretischen Modells mitbestimmend sind auf dem textanalytischen Niveau Modelle gefragt, die für das Übertragungsphänomen relevante Strukturen und Semantiken bereitstellen. So wird beispielsweise das Verhältnis vom Ort in der Literatur zum Ort in der Realität von der Differenz Fiktion--Realität geleitet; aber auch die narrative Aufladung des Ortes mit Signifikanz durch die besondere Einbettung im Plot verlangt nach einem Modell.

Am ehesten lassen sich die beiden Ebenen durch psychoanalytisch inspirierte Modelle verbinden, nicht zuletzt, weil sich dabei die individuelle psychische Ökonomie als von gesellschaftlichen Symbolismen bestimmt definieren läßt und gleichzeitig doch Referenzpunkt bleibt.

Kulturmodelle

Von den Versuchen seitens des Strukturalismus, Kultur über ein linguistisches Paradigma zu definieren, blieb auch die Psychoanalyse nicht verschont. Lacans linguistische Wende in der Psychoanalyse wurde zu einem Referenzpunkt in vielen poststrukturalistischen Kulturentwürfen. Es sollen hier allerdings weniger die Entwürfe interessieren, für die die Homologie von psychoanalytischen Figuren mit Sprachstrukturen den Endhorizont bildet, deren Ziel also ist, beispielsweise Metapher und Metonymie mit Verdichtung und Verdrängung zu identifizieren und damit Kultur erklärt zu haben. Interessant sind dagegen die Versuche, die sich vom linguistischen Paradigma wieder wegbewegen hin zu einer allgemeineren Kulturtheorie. Das haben auch MacCannell und MacCannell versucht in einer Erweiterung des semiotischen Paradigmas auf eine Verbindung von Marx und Freud hin.gif Dieser Versuch bleibt wegen der allegorischen Überhöhung der Semiotik als master method und des schwammigen Begriffes von ,,Kultur`` problematisch. Dagegen nimmt beispielsweise Cornelius Castoriadis' Verbindung von Psychoanalyse und historischem Materialismus die kulturelle Funktion des Imaginären für die Entstehung aller gesellschaftlichen Institutionen ernst.

Wie überhaupt der Begriff des Imaginären zu fruchtbaren Ansätzen für die Bestimmung der Funktion von Kultur geführt hat. Während Iser sich Castoriadis' Ansatz zur Entwicklung eines Funktionsmodells von Fiktion aneignete, rekurriert Gabriele Schwab auf das intermediäre Feld Winnicotts, in der sich imaginäre Primärprozesse ständig neu in die Strukturen der symbolischen Sekundärebene einspielen. Eine weitere, noch mehr an die kulturellen Objekte sich annähernde psychoanalytische Konzeptualisierung ist die der partialtriebhaften Lustbefriedigung (Narzißmus, Sadismus/Masochismus), wie sie von Deleuze/Guattari entwickelt und von Bersani in die Literaturanalyse eingebracht wurde.

Castoriadis Begrifflichkeit des Imaginären erhebt dieses als kaum lokalisierbares ,,Magma`` fast schon zum metaphysischen Prinzip, das ganz allgemein als Quelle von Schöpfung auf epistemologischem und ontologischem Niveau gleichermaßen wirkt. Es ist vielseitig anschließbar, weil noch nicht spezifisch. Jegliche gesellschaftliche Institution kann als Konkretisierung imaginärer Schöpfungskraft begriffen und auch wieder verändert werden. In Bezug auf das ökonomische System rechfertigt Castoriadis Theorie revolutionäre Praxis, denn sie hebt die kulturelle Erzeugtheit der vermeintlich natürlichen Kategorien industrieller Rationalität hervor. In Bezug auf kulturelle Institutionen ist Castoriadis nicht so spezifisch. Aber W. Iser hat gezeigt, daß im Prinzip der Institutionsbegriff für die kulturellen ,,Formen des Imaginären`` fruchtbar ist. Im Prinzip möchte ich also den Tourismus ebenfalls als eine solche Form des Imaginären betrachten. Allerdings hilft dabei Isers Modell des Fiktiven kaum weiter als in dieser Form der Heuristik. Ironischerweise verdeckt Isers epistemologische Funktionalisierung von Literatur-Fiktion-Narrativität das Spezifische der Literatur (und -genres) im Verhältnis zum Spezifischen der Fiktionalität im Verhältnis zum Spezifischen der narrativen Form. Genau diese Spezifika werden im Verhältnis von Literatur/Texten zum Tourismus aber problematisch, und daher sind auf der einen Seite alternative Methodiken erforderlich, die im nächsten Unterabschnitt zur Sprache kommen und die auch als Leitkategorien die Arbeit gliedern werden.

Andererseits bleibt jenseits des schöpferischen Ausspielens des Vermögens der Imagination auch noch die Übertragungsleistung der kulturellen Form der Literatur auf die kulturelle Form des Tourismus zu erklären. Neben den Leitkategorien Genre, Fiktionalität, narrative Form könnten da auch psychoanalytische Konzepte eine klärende Rolle spielen. Winnicotts Konzeptualisierung der Objektbesetzung (genetisch aus dem Kinderspiel) als konstitutiv für die Ichbildung würde die Wirkungsweise und Attraktivität literarischer Weltbildung erklären - sowie die möglicherweise komplementäre Funktion des Touristischen Erlebens der ,,Realität``. Alternativ dazu, weniger auf der Stabilisierung eines Ich beruhend, könnte die Umbesetzung von lustbringenden Objekten im Rahmen einer partialtriebhaften Ökonomie eine Erklärung für die Transferierung bieten: so etwas versucht Bersani. Silvermans Versuch, das Szenische selbst psychoanalytisch herzuleiten, als Nachwirken des Traumas der Beobachtung der ,,Urszene``, halte ich für eher problematisch.

Welcher der theoretischen Ansätze zur Übertragung letztlich am geeignetsten ist, stellt sich erst im Verlauf der Analyse des Werks von Henry James heraus. Wieso gerade das Werk von Henry James? Bevor diese Frage beantwortet wird, sei hier noch einmal auf den Horizont der Analysekategorien eingegangen, unter dem die Literatur hinsichtlich ihrer Übertragungsfähigkeit auf den Tourismus untersucht wird.

Analysekategorien

Die Arbeit wird die Frage: ,,Wie wird der Leser zum Touristen?`` in der Analyse von Romantexten entwickeln, wobei der Fokus auf dem Werk von Henry James liegen soll. Die Untersuchung wird sich vor allem darum drehen, welchen Status der ,,andere Ort`` im Roman bekommt. Dieser Status ist nun in mehreren Hinsichten interessant:

Fiktionalität:
Der Ort ist die Schnittstelle zwischen Fiktion und Realität. Er gibt der Fiktion den Charakter der Darstellung einer ,,Welt``. Insofern der andere Ort ein vorgestellter realer Ort ist, ist sein Status ambivalent: er ist gleichzeitig in dieser und in der fiktionalen Welt. Über den Sinn, die die Referenz der Fiktion ausmacht, kann die Ambivalenz wieder aufgehoben werden: der Ort nimmt am Sinn des symbolischen Konstrukts der Fiktion teil, die damit die Bedeutung des Ortes erweitert.

Darstellung:
Der Ort taucht im Roman in einem eher beschreibenden als narrativen Modus auf. Diese Position bestimmt die Möglichkeiten, die ihm in der narrativen Entwicklung und der Erzählerperspektive zuwachsen.gif

Darüberhinaus läßt sich dieser Modus intertextuell mit beschreibenden Genres wie dem Reisebericht in Verbindung bringen, die die Möglichkeiten seiner Nutzung für die Etablierung einer Wahrnehmungssubjektivität potenzieren.

Narrativität:
Der Ort hat eine bestimmte narrative Position im Text. Das heißt, er ist nicht nur verantwortlich für die Erzeugung eines reality effects , sondern hat als spezifischer Ort immer auch Bedeutung. Welche Bedeutung das ist und wie diese Bedeutung erzeugt wird, das ist der Effekt der narrativen Positionierung.

Semantik:
Damit hängt zusammen, in welchem semantischen Feld der Ort letztlich verankert wird. Wenn der Ort strategisch in einem love -plot positioniert ist, überträgt sich auf ihn die Bedeutung als Szene eines möglichen Liebesabenteuers. Wenn der Ort Szene einer Anagnoresegif eines zweifelnden Individuums ist, so wird der Ort womöglich spezifisch als Katalysator für Erkenntnis als Konstituens von Individualität oder einer individuellen Position. Hier interessiert der Beitrag kulturell etablierter semantischer Felder zur narrativen Positionierung der Bedeutung des Ortes.

Diese hier eher abstrakt vorgetragenen Dimensionen des Verhältnisses von Ort zu Text leiten letztlich die Ordnung der Analyse des Textkorpus. Die nähere Erläuterung desselben wird auch die Analysekategorien deutlicher machen.


next up previous
Next: Henry James und der Up: Horizont: Kulturtheorie und Tourismus Previous: Archäologie des Tourismus

Ulrich Brinkmann
Tue Jul 8 19:04:01 MET DST 1997