Die strukturalen Kurzschlüsse MacCannells werden deutlich, wenn man Forschungen berücksichtigt, die den Tourismus historisch aus der früheren Reisepraxis der Pilgerfahrt ableiten. Der Funktionswandel, den das Ziel der Reise durchmacht, läßt sich ohne die Einbettung in die Prozesse der Säkularisierung, der Verbreitung der Schrift und der Individualisierung gar nicht verständlich machen. Daraus ergibt sich eine spezifischere Einordnung in die historische Phase, in der das Reisen zum Tourismus wird.
Allerdings wäre die historische Rekonstruktion der Pilgerfahrt auf
der Basis eines funktionalen Gesellschaftsmodells selbst schon eine
Arbeit wert. Die bisherigen kulturanthropologischen Konzeptualisierungen
bauen eher auf universalanthropologischen Paradigmen auf, die der
hier angestrebten Historisierung eher zuwiderlaufen. Immerhin läßt sich sagen, daß es sich schon bei der christlichen
Pilgerfahrt um eine Authentifizierung handelt, die ein Verhältnis
von Text und Sehenswürdigkeit etabliert. Wie Mary Campbell in ihrem
The Witness and the Other World: Exotic European Travel Writing,
400-1600 beschreibt, reflektieren die frühen Berichte von Pilgerreisen
nach dem Heiligen Land (ab dem fünften Jahrhundert n.Chr.) kaum die
externen Gegebenheiten und ergehen sich vielmehr in der litaneihaften
Bestätigung erwarteter Formeln; Gebet und Bericht haben dieselbe Form.
Die Schrift als Zeugnis hat dabei noch nicht die Aufgabe, eine individuelle
Erfahrung auszudrücken. Die Bestätigung der Wahrheit der Heiligen
Schrift im Besuch des Heiligen Landes ist zwar eine Authentifizierung,
die ein persönliches Zeugnis in der Schrift befördert,
dessen Form aber eben nicht als Ausdruck von Individualität institutionaliert
ist.
Darüberhinaus ist die schriftliche Zeugenschaft kaum als wesentlicher Bestandteil der Pilgerfahrt anzusehen, schon allein weil es viel mehr Pilger gab als Leser. Der Bezug zum Text ergibt sich allerdings andersherum: Der Wert der Reliquien, als deren Schrein die Wallfahrtstätten für die Pilger attraktiv waren, ergibt sich aus ihrem Verhältnis zu den Geschichten der Bibel, deren Wirklichkeit/Wahrheit sie repräsentierten. Sichtbarkeit, ja Berührbarkeit, macht die Präsenz des Relikts zum Anlaß für das Erlebnis der Anwesenheit Gottes auf dieser Welt. Was noch genauer untersucht werden müßte, wäre der Zusammenhang zwischen der spezifischen Narrativität des biblischen Textes und der Authentifizierung durch persönliche Inaugenscheinnahme. Vermutlich ließe sich hier das Christentum als historische Zeit etablierende Religion fassen. Aber ebenso wie weitergehende Vergleiche mit ähnlichen Strukturen im Islam würde das den gesetzten Rahmen erst recht sprengen. Deutlich wird jedoch hier schon der Kern einer Konstellation, die als Ausdifferenzierung der Individualität in der Renaissance und in der Reformation zu einer neuen historischen Epoche führte, die noch immer nicht zu Ende gegangen ist. Individualisierung, Säkularisierung und die ,,Verschriftlichung`` sind die Wegmarken, die den Wandel von der Pilgerfahrt zum Tourismus anzeigen.
Das Verhältnis von Text zu Sehenswürdigkeit legt nun nicht nur eine
bestimmte Genealogie nahe (von der Pilgerfahrt zum Tourismus), sondern
erlaubt auch, diesen Strang der Reisepraxis von einem anderen historischen
Strang zu trennen. Die Epochenschwelle zur Neuzeit wird ja häufig
mit den Entdeckungsreisen nach Asien und Amerika angesetzt, die portugiesische,
spanische und holländische Seefahrer aus ökonomischen und politischen
Interessen unternommen hatten. Aus der sich abzeichnenden Dichotomie
zwei anthropologische Konstanten zu bestimmen, birgt die Verführung
zu entdifferenzierender Mythisierung des Symbolischen, wie das in
anthropologischen Definitionen des Tourismus als sakralem oder rituellem
Bereich gegenüber dem alltäglichen materialistischen sozialen Leben
zum Ausdruck kommt. Dagegen wird hier avisiert, die kolonialisierenden Reiseformen genauer
zu den textbezogenen ins Verhältnis zu setzen. Die Differenz ist zu
wichtig, als daß man sie zugunsten des einen oder anderen auflösen
könnte. Daß sich heute Tourismus wegen der Kommerzialisierung von
Kultur in einer Kulturindustrie als Kolonialismus auswirken kann,
verweist eher auf die Notwendigkeit einer genauen Funktionsbestimmung
denn auf die ,,entlarvende`` Identifizierung von Tourismus mit Kommerz.
Wie sehr kulturelles Reisen dem Kolonialisierungsapparat auch (indirekt)
gedient und zugearbeitet haben mag, die Differenz zwischen Wissenschaftler,
Bildungsreisenden und Touristen auf der einen und militärischen und
Handelsunternehmungen auf der anderen ist strukturell. Die Textbezogenheit
der ersteren macht sie natürlich für die letzteren nicht unnütz, im
Gegenteil, wie sich das wissenschaftliche Wissen immer mehr auf empirische
Gegenstände zurichtet, wird es auch instrumentalisierbar.
Aber das verweist ja nur auf die besondere Stellung der Textualität
in der neuzeitlichen Gesellschaft. Und läßt sich auch als motivierte
Ausdifferenzierung des Reisens immer mehr in die Richtung eines individuellen
ästhetischen Erlebens formulieren.
Als Grundlage für die historische Funktionsbestimmung des Tourismus
bietet sich Luhmanns systemtheoretische Revision der historischen
Entwicklung neuzeitlicher Gesellschaften an. Im selben Paradigma ist
auch schon eine Untersuchung über die Auswirkungen der Drucktechnik
durchgeführt worden, die in denselben Horizont paßt.
Eine solche differenzierende, systemtheoretische Perspektive ist deshalb
notwendig, weil sich die oben dargestellte Unterscheidung zwischen
einem textbasierten und einem politische und ökonomische Interessen
verfolgenden Reisen schnell wieder in der anthropologischen Falle
finden würde, die einen sakralen von einem profanen gesellschaftlichen
Bereich trennt und den Tourismus ersterem zuordnen würde. Natürlich
ist es legitim, Tourismus (und Freizeit) als dem Alltag entgegengesetzt
zu betrachten, aber die historischen Bedingungen müssen mitberücksichtigt
werden, wenn die genaue Funktion dieser nichtalltäglichen Erfahrung
zureichend bestimmt werden soll.
Auf diesem Hintergrund wird es darum gehen, die Entwicklung von Literatur und ihrer Genres im neuzeitlichen Sinne mit der Praxis des Reisens zusammenzubringen. Dies ist der historische Horizont unseres Verständnisses von der ,,Kultur,`` in die Tourismus und Literatur funktional eingebettet sind. Der Vorteil eine Historisierung nach Luhmann gegenüber MacCannell besteht in der möglichen Problematisierung des zentralen Begriffs ,,Individuum``.