So wenig war nie: 85.000 Studienplätze wird Berlin zur Hochschulprovinz

Zur Zukunft der Universität


Das Abgeordnetenh aus von Berlin hat mit dem Erlaß des sogenannten Haushaltsstrukturgesetzes vom 15.04.1996 einen neuen Planwert von 85.000 Studienplätze in Berlin festgelegt. Diese Zahl entspricht exakt der Zahl der Studienplätzen, die bereits 1984 im damaligen Hochschulentwicklungsplan allein für West-Berlin (2 Mio. Einwohner) erreicht war.

Seitdem hat bekanntlich die Wiedervereinigung Berlins stattgefunden (jetzt 3,6 Mio. Einwohner). Die Zahl der Studienberechtigten hat ständig weiter zugenommen und wird auch in Berlin 40 Prozent eines Altersjahrganges erreichen (zur Zeit etwa 33 Prozent). Kein vergleichbarer Ballungsraum in Deutschland (München, Köln, Hamburg, Frankfurt) und keine vergleichbare westliche Metropole bietet im Verhältnis zur Einwohnerzahl derart wenig Studienplätze im Hochschulbereich an.

Die Freie Universität Berlin, die seit 1993 bereits 10.000 Studienplätze (27 Prozent ihres ursprünglichen Bestandes) abgebaut hat, muß mehrere tausend weitere Studienplätze durch Stellenabbau streichen und droht dabei, strukturell zerstört zu werden.



Rückblick in die siebziger Jahre ...

Der Ausbau der Hochschulen hat entscheidend zum wirtschaftlichen, geistigen und politischen Überleben der Inselstadt West-Berlin beigetragen. Gerade der schnelle Aufbau der 1948 neu gegründeten Freien Universität, die zuerst für junge DDR-Bürger, nach dem Mauerbau im Jahre 1961 für junge Westdeutsche sehr attraktiv war (60 Prozent der Studierenden kamen von auswärts), sorgte für einen ständigen Zuzug nach Berlin und auch für Arbeitsplätze und Arbeitskräfte.

Die schnellsten jährlichen Ausbauraten erlebten die Berliner Hochschulen Anfang der siebziger Jahre. Die Fachhochschulen wurden neu gegründet. Die FU war 1973, 25 Jahre nach Ihrer Gründung, bereits zur zweitgrößten deutschen Universität (24.000 Studierende) nach der Universität München aufgestiegen.

Bis 1977 folgte der Hochschulausbau im alten Bundesgebiet und in West-Berlin dem Ausbau des weiterführenden Schulwesens und der steigenden Abiturientenquote. Erst der der Ölkrise folgende Konjunktureinbruch veranlaßte im Jahre 1977 Bund und Länder, den Hochschulausbau zu stoppen. Die Hochschulen sollten zwar offen bleiben (sog. Öffnungsbeschluß, Zulassungsbeschränkungen sollte es nur in wenigen Ausnahmefällen geben), um die ebenfalls überlastete duale Berufsausbildung nicht zu gefährden und in der falschen Erwartung, die Studiennachfrage würde nach einiger Zeit demographisch bedingt von allein zurückgehen.



... in die achtziger Jahre

Für die Hochschulen in West-Berlin verfügte der Berliner Senat unter Richard von Weizsäcker (CDU) im Jahre 1982 erstmals eine Reduktion der Studienplatzzahl. An der FU waren dies 3,5 Prozent Reduktion, gegen die auch damals heftig protestiert wurde. Gleichwohl sah der vom Senat im Jahre 1984 beschlossene Hochschulentwicklungsplan für West-Berlin 85.000 Studienplätze (nach heutigen Höchstlastkriterien), darunter etwa 38.000 für die FU Berlin vor. Die FU hatte damals etwa 50.000 eingeschriebene Studierende. Die Studienplatzzahl für West-Berlin war, bezogen auf die Bevölkerung, etwa doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Entsprechendes galt übrigens noch stärker für die Ost-Berliner Hochschulen im Verhältnis zum Rest der DDR. In Ost-Berlin studierten 20 Prozent der DDR-Studierenden bei 7,8 Prozent Anteil Ost-Berlins an der DDR-Bevölkerung, allerdings bei einem halb so hohen Abiturienten- bzw. Studentenanteil am Geburtsjahrgang.

In der Zeit des letzten großen Studentenstreiks 1988/89 war die jährliche Studienanfängerquote der FU auf über 10.000, die Gesamtzahl auf knapp 60.000 Studierende angestiegen. Nicht zuletzt die Proteste führten dazu, daß auf Bundesebene und insbesondere auch in Berlin (Rot-Grüne Koalition!) Hochschulsonderprogramme aufgelegt wurden, um Überlast abzumildern und Reformen zu fördern (u.a. Projekttutorienprogramm).



Neue Planungen nach der Wiedervereinigung

Parallel zur Teilabwicklung und zum personellen Neuaufbau der Humboldt-Universität und anderer Hochschulen in Ost-Berlin sollte eine Landeshochschulstrukturkommission (LHSK) aus auswärtigen Wissenschaftlern die weitere Entwicklung und fachliche Struktur der Universitäten planen. Die bereits damals absehbar schlechten finanziellen Rahmenbedingungen des Landes Berlin und die Entwicklung der Studiennachfrage interessierten den zuständigen Senator Erhardt und diese Kommission erst am Ende ihrer Arbeit, als der übrige CDU-SPD-Senat auf eine Reduktion um 15.000 Studienplätze in Berlin drängte. Diese Reduktion und finanziellen Kürzungen waren dann Gegenstand des Hochschulstrukturplans des Senats von 1993.

Den überwiegenden Teil der Reduktion, knapp 10.000 Studienplätze (27 Prozent ihres Bestandes), sollte die nach weit geteilter Meinung zu groß geratene Freie Universität beitragen. Dies wurde trotz erheblicher Bedenken aber letztlich mit Blick auf die Neustrukturierung in Ost-Berlin und den Aufbau von Hochschulen in Brandenburg von den Gremien der FU akzeptiert. Die Planung sah vor, daß die FU allein im nichtmedizinischen Bereich 250 Professorenstellen, 148 Mittelbaustellen und 2 47 Stellen für Sonstiges Personal, also ingesamt 645 Stellen (etwa 14 Prozent des Bestandes), bis zum Jahre 2003 abbaut. Der jährliche Zuschuß an die FU - wiederum ohne Medizin - sollte sich dann um 75 Millionen DM pro Jahr reduzieren. Die FU hatte bereits seit 1992 fast vollständig Zulassungsbeschränkungen eingeführt.
Studierendenzahlen, Studienplatzzahlen/ Planungen in BerlinStudierende WS 91/92Studienplätze Ist-Werte 1991Studienplätze Empfehlungen der LHSK 1992Studienplätze Hochschulstrukturplan 1993 Studierende WS 1995/96Studienplätze Hochschulstrukturplan 1996
Freie Universität6200038400270002900049600?
Humboldt Universität1830023000* 16000 22100 30100 ?
Technische Universität3670027600220002300037300 ?
Fachhochschulen1830020000*300001975018100 ?
Kunsthochschulen65006000500054406700 ?
INSGESAMT1418001150001000009929014180085000
*Sollwerte zur Neustrukturierung, Ist-Werte an der HU höher
Schon im Jahr 1994 wurde die vorher gegebene Zusage "gesicherte Rahmenbedingungen" nicht mehr eingehalten. Es wurden ständig weitere pauschale und gezielte Kürzungen (Verwaltungspersonal sog. Mehrfachangebote, etc.) verfügt.



Keine Planungssicherheit mehr

Ergebnis der bisher getroffenen Kürzungsentscheidungen an der FU Berlin ist, daß Ende 1996, d.h. nach drei statt nach zehn Jahren, die im Hochschulstrukturplan vorgesehene Zuschußkürzung bereits um zwei Millionen pro Jahr übertr offen wird (77 Millionen DM) und bei den Stellen 562 von 645, d.h. 85 Prozent entfallen sein werden (jeweils ohne Medizin; für den medizinischen Bereich wurden gesetzlich besondere Kürzungen verordnet). Der Mittelbau ist mit einem leicht überproportionalen Anteil beteiligt. Stark unterproportional ist der Bereich der sonstigen Mitarbeiter betroffen.

Die Folge dieser Kürzungen ist, daß die Zahl der Studienplätze der FU bereits Ende 1996 mit etwa 28.000 die eigentlich für das Jahr 2003 vorgesehene Zielzahl unterschreitet. Die Gesamtzahl der Studierenden der FU ist unter 50.000 gesunken.



Abbau der überregionalen Ausbildungsfunktion

Noch im Sommer 1995 hatte der Senat von Berlin zusammen mit der Landesregierung von Brandenburg im Staatsvertrag auch den quantitativen Rahmen für die gemeinsame Hochschulplanung des fusionierten Landes abgesteckt. Danach wollte Berlin langfristig bei 100.000 Studienplätzen bleiben, während Brandenburg schrittweise auf 34.000 Studienplätze ausbauen wollte. Auf die Bevölkerung des gemeinsamen Landes mit sechs Millionen Einwohnern bezogen sollte diese Studienplatzzahl genau dem Bundesdurchschnitt entsprechen (24,5 Studienplätze auf 1.000 Einwohner. Zum Vergleich: Hamburg hat 43,5, Hessen 27,5, Baden-Württemberg 26,4, Nordrhein-Westfalen 24,0 Studienplätze auf 1.000 Einwohner).

Das Studienanfängeraufkommen von Berlin und Brandenburg, das im Jahre 1995 18.400 betrug, wird bis 2005 voraussichtlich auf 27.000 pro Jahr ansteigen, wofür die geplante Studienplatzzahl gerade ausreichen würde. Die für West- und Ostberlin früher praktizierte und für eine Metropole wichtige überregionale Ausbildungsfunktion wird damit aufgegeben.

Mit der jetzt festgelegten Studienplatzzahl für Berlin von 85.000 wird ein Ausbildungsdefizit programmiert. Bis 31.10.96 soll in einer Neufassung des Hochschulstrukturplans von 1993 geklärt werden, wie sich die Reduktion auf einzelne Hochschulen in Berlin verteilen soll. Die für 1996 verfügten zusätzlichen Haushaltskürzungen schließen an der FU die Wiederbesetzung von frei werdenden Stellen nahezu vollständig aus. Nahezu die gesamten frei verfügbaren Finanzmittel werden jetzt weggekürzt, die notwendige personelle Erneuerung kommt zum Erliegen. Der wissenschaftliche Nachwuchs kann in Berlin nicht mehr mit Beschäftigungspositionen gefördert werden. Dies gilt erst recht für die Frauenförderung. Die ab 1997 vorgesehenen weiteren Reduzierungen des jährlichen Zuschusses für die Berliner Hochschulen (um ingesamt 251 Millionen DM) werden vermutlich auch noch nicht das letzte Wort sein.



Berlin wird zur Hochschulprovinz

Man fragt sich, wie eine Politik, die für eine bessere Zukunft sorgen will, dies mit weniger Hochschulausbildung und Nachwuchsförderung in Berlin erreichen will. Die Kürzungen im Hochschulbereich vernichten nicht nur 4.000 - 5.000 attraktive Arbeitsplätze und schaffen zusätzliche Arbeitslose. Der Abbau von 30.000 Studienplätzen bzw. die damit verbundene Reduzierung der Studierendenzahl um mindestens 40.000 bedeutet einen Kaufkraftverlust von 560 Millionen DM pro Jahr für die Stadt (etwa 14.000 DM gibt ein Student pro Jahr durchschnittlich aus). Auf der anderen Seite investiert der Senat Milliarden in den Messeausbau und in die Verkehrsinfrastruktur, um den Wirtschaftsstandort zu stärken (Kurzzeitige Messebesucher sollen 400 Millionen DM Kaufkraft pro Jahr in Berlin beitragen).

Innerhalb von Berlin-Brandenburg werden AbiturientenInnen verstärkt mit anderen Schulabgängern um die heute schon zu knappen beruflichen Ausbildungsplätze konkurrieren.



Berlin schädigt die nachwachsenden Generationen

Nach Einschätzung des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg fehlen im Oktober 1996 6.000 Lehrstellen (Tagesspiegel vom 27.04.1996). Die vielen tausend, schon heute fehlenden Arbeitsplätze lassen sich nur in sehr begrenztem Umfang im Produktionssektor finden. Der Ausbau Berlins vor allem für Dienstleistungsfunktionen setzt aber entsprechende Investitionen in Qualifikation und Wissenschaft voraus. Der drastische Abbau gerade dieses Sektors kommt einer Selbstverstümmelung Berlins gleich.

Traugott Klose

Traugott Klose ist Leiter der für Angelegenheiten von Lehre, Studium und Weiterbildung zuständigen Abteilung der FU


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