aus:"FUTURA, 4/1996, Boehringer Ingelheim Fonds"

Ökologie
Riffe sind mit langsam ansteigendem Meeresspiegel stetig nach oben gewachsen. Die unteren Zonen sind dabei jeweils abgestorben, die Zwischenräume in dem bizarren Kalkgerüst haben sich meist mit Sediment gefüllt. Dadurch hat sich ein teils massiver, teils poröser Kalksockel gebildet. In dem Bereich, der noch mit dem freien Wasser und somit mit Nahrung und Sauerstoff in Verbindung steht, wird er von zahlreichen bohrenden Organismen bewohnt. Dieser Bereich ist, ohne das Riff zu zerstören, kaum zugänglich. So sind hier die meisten unbekannten Arten zu erwarten. Im Regenwald entspricht dies der Humusschicht mit ihren ungezählten unscheinbaren Bodenbewohnern. Darauf aufbauend folgen die Stockwerke aus den Kalkgerüsten der unterschiedlichen Korallenarten. Diese ,,Geäst" wäre vergleichbar mit Laub-, Strauch- und Kronenschicht im Regenwald. Zwischen, auf und auch bohrend in diesen Ästchen leben die Riffbewohner. Manche suchen sich ihren Platz ,,freiwillig", andere werden als Larven auf eine beliebige Stelle geschwemmt, wachsen fest und müssen mit den Bedingungen dort zurecht kommen. Neben der Vielzahl an Klein- und Kleinstlebensräumen ist die Fülle an Ernährungsformen bemerkenswert: Räuber und Pflanzenfresser, Symbiose und Parasitismus, ... alle Möglichkeiten werden hier auf einer hochspezialisierten Ebene ausgeschöpft. Oft sind nur ein bis zwei Organismen die Überlebensgrundlage für einen dritten. Somit ist ein solches System mit nur wenigen Generalisten sehr anfällig für menschliche Eingriffe, ermöglicht aber andererseits durch optimale Nutzung der Resourcen eine phantastische Artenfülle in einer im Prinzip nährstoffarmen Umgebung.
Die Struktur der Korallenriffe, ihre ständige Erneuerung und Ergänzung durch die Möglichkeit der autogenen Reproduktion der Korallen gewährleistet einen vielgestaltigen und hochkomplexen Lebensraum. Die darin enthaltenen verschiedenartigsten "Wohnräume" führten zu einer unvorstellbaren Ansammlung unterschiedlichster Lebewesen, zu einer bis heute nur unzureichend bekannten Artenfülle auf engstem Raum. Die Zahl der im Korallenriff lebenden Arten läßt sich, wenn überhaupt, nur sehr schwer abschätzen. Trifft man in anderen marinen Lebensräumen wie dem Wattenmeer, auf verhältnismäßig wenig Arten mit jeweils einer hohen Individuenzahl, so ist die Vielfalt der Tierarten, die ein Korallenriff bevölkern, mehr als überwältigend.
Worin liegt nun das Erfolgsgeheimnis für diese hohe Artenvielfalt (Biodiversität)? Sicher ist, daß nicht die Steinkorallen als die Baumeister der Riffe den Hautanteil daran haben. Vielmehr sind es die Krebse, die Muscheln, die Schnecken, die Würmer, die Algen und die Fische. All diese Arten kommen im Riff auf engstem Raum vor, weil sie unterschiedliche Lebensmöglichkeiten realisiert haben bzw. in der Lage sind, ihre eigene ökologische Nische zu besiedeln. Dies trifft nicht nur auf den Ort innerhalb eines Korallenstocks zu, sondern gerade auch auf die unterschiedlichen Strategien der Ernährung, Fortpflanzung, Bewegung, Toleranz gegenüber Temperatur, Licht, Strömung und vieles mehr. Dies alles zusammen betrachtet ergibt einen vielgestaltigen Lebensraum, in dem jede Art seinen Platz erorbert hat und ihn erfolgreich mit Nachkommenschaft besetzt hält. So führen sowohl abiotische als auch biotische Faktoren zu einer hohen Artenvielfalt, die die Korallenriffe neben den tropischen Regenwälder zu den artenreichsten Ökosystemen der Erde machen.
Bei genauer Betrachtung dieser Nischenbildung bzw. ihrer Besiedlung im Zusammenhang mit der Artenvielfalt lassen sich sogenannte Opportunisten und Spezialisten im Riff unterscheiden. Opportunistische Organismen sind nicht an bestimmte Umweltbedingungen gebunden. Man könnte auch sagen, sie sind in der Lage, sich überall zu behaupten und reproduktionsfähige Populationen zu bilden. Zum Erreichen dieses Zieles zeugen sie eine große Anzahl von Gameten bzw. Larven, von denen zwar die meisten während ihrer planktischen Phase aufgefressen werden, einige davon jedoch überleben und sich vermehren. Hierzu zählen u. a. die Steinkorallen. Ihre Larve kann bereits bei der Freisetzung Zooxanthellen besitzen bzw. sie direkt aus dem freien Wasser aufnehmen. Zusammen mit einer gewissen Menge an Speicherfett, welches für einen günstigen Auftrieb sorgt, und der Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme sind diese Larven für den teilweise mehr als 100 Tage dauernden Verbreitungsdrift bestens gerüstet.
Die Spezialisten unter den vorkommenden Arten bilden dagegen niemals große, individuenreiche Populationen aus. Ihre Anzahl an Nachkommen ist so groß, daß die Gefahr des Aussterbens ausgeschlossen ist. Ihre hohe Spezialisierung macht sie den Opportunisten gegenüber überlegen -- sie setzen sich durch. Der ständig herrschende Konkurrenz- und Selektionsdruck im Riff sorgt für einen hohen Anteil an Spezialisten am Gesamtartenbestand und zur Bildung neuer Arten.

Abb. 6: Durch Wind und Wellen umgeworfene große Tischkorallen können den Schaden unter ungestörten Bedingungen reparieren und bilden neue 'Tische' aus.



Störungen des Ökosystems

Tropische Wirbelstürme können in Korallenriffe verheerende Zerstörungen hinterlassen. In diesem Zusammenhang werden meist die großflächigen Verwüstungen an den Riffen Jamaicas zitiert, die dort in regelmäßigen Abständen durch Hurrikans angerichtet werden. Die Riffe erholen sich zwar im Laufe der Jahre wieder, doch längst erreichen sie ihre ursprüngliche Üppigkeit an Formen und Farben nicht mehr. Bedingt durch globale Klimaveränderungen, die wohl auch zum häufigeren Auftreten schwerer und schwerster Wirbelstürme führen, verringert sich allerdings auch die Zeitspanne, die für die Regeneration eines Riffs bleibt.
Globale Veränderungen unseres Klimas, wie die Erwärmung, hinterlassen gewaltige Spuren an den Korallenriffen. Eine daraus resultierende Erhöhung der mittleren Jahreswassertemperatur um wenige Zehntel Grad ist wohl die Hauptursache für das Ausbleichen (Coral Bleaching) von Korallen. Dabei bleichen die Korallen plötzlich aus, weil die symbiontisch in den Korallen lebenden Algen ihr lebenswichtiges Pigment, das Chlorophyll, verlieren, oder -- was viel häufiger ist -- die Zooxanthellen selbst verlassen die Korallenpolypen. Zurück bleiben die weißen, bleichen Korallenstöcke. Ein schockierendes Bild! Seit Ende der 70er Jahre häufen sich die Meldungen über derartige ,,Bleiche Riffe", die sich teilweise wieder erholen, teilweise jedoch vollständig absterben. Neben der globalen Erwärmung werden noch sogenannte El Nino-Phänomene mit dem Ausbleichen der Korallen in Verbindung gebracht. Hierbei handelt es sich um Veränderung in den Meeeresströmungen, die zum Transport warmen Wassers führen, wo sonst kaltes Wasser hintransportiert wird. Diese lokalen Ereignisse treten fast regelmäßig alle 3 bis 5 Jahre auf. Oft geschieht dies zu Weihnachten - daher der Name ,,Das Kind". Diese warmen Wassermassen erhöhen dann die Temperatur und führen somit ihrerseits zum Ausbleichen. So ließ z.B. die El Nino Southern Oscillation der Jahre 1982/83 auf den Inseln vor Panama 50% der Korallen absterben, zwei von zwölf Millepora-Arten (riffbildende Hydrozoen) verschwanden völlig. Sie sind empfindlich gegen zu warmes Wasser und kommen gleichzeitig nur im Flachwasser vor, also dort, wo sich El Nino am stärksten auswirkt. Meldungen über Korallenkrankheiten werden immer häufiger, und so ist es verständlich, daß sogar ein neues Fachgebiet, die Korallen-Pathologie, entstanden ist. Hierzu zählen die sehr lokal auftretenden ,,Band-Krankheiten", wie Schwarz-Band-Krankheit (Black Band Disease) und die Weiß-Band-Krankheit (White Band Disease). Sie kommen eher zufällig und auch in gesunden Meeresgebieten vor. Das beobachtete Phänomen ist eine Infektion der Korallen mit einer Blaualge, die sich auf lebenden Korallen als schwarzes Band manifestiert. Entsprechend erscheint die Weiß-Band-Krankheit als weißes Band.
Ein Beispiel dafür, wie ein kleiner Eingriff in ein Ökosystem wirkt, ist die auffällige Vermehrung der Dornenkrone (Acanthaster planci). Dieser große, giftige Seestern ernährt sich von Korallenpolypen. Zu seinen wenigen Feinden zählt das Tritonshorn (Charonia tritonis), eine bildschöne Schnecke, die massenhaft als Souvenir für die Touristen gefangen wird. Die jetzt durch die Dezimierung der großen Schnecke nahezu ungestörten Freßorgien der Dornenkronen hinterlassen weiße, tote Korallenstöcke. Eine Bedrohung für die Korallen, die besonders am Großen Barriereriff zu wahren Vernichtungsfeldzügen gegen die Dornenkronen geführt hat ... ohne darüber nachzudenken, ob das Gift, das gegen die Seesterne eingesetzt wird, eventuell auch anderen Organismen schadet. Bis jetzt weiß übrigens niemand, welche vielleicht sehr wichtige Funktion die Dornenkronen in dem ganzen System haben. Also schlägt der Mensch mal wieder zu, ohne vorher zu fragen...

Abb. 7: Zu den Freßfeinden der Korallen zählt ein großer Seestern, die Dornenkrone (Acanthaster planci).



Korallenriffe und ihre Organismen zeigen eine erstaunliche Toleranz gegenüber Schadstoffen. So werfen Strömung und Wellen ständig Sedimente auf die Korallen und weitere festsitzende Organismen. Korallen werden damit aber meist schnell fertig. Bei erhöhter Sedimentlast allerdings -- wie beim Bau von Küstenstraßen oder durch Ausschwemmungen aus Waldrodungsgebieten -- sind die Korallen nicht mehr in der Lage, sich selbst zu helfen. Sie sterben meist ab, oder ihr Wachstum wird stark beeinträchtigt.
Auch die Schwarze Pest, das Erdöl, bedroht die Riffe. Nicht die medienwirksamen Tankerhavarien sind es aber, sondern das tagtäglich aus Lecks in Pipelines und Tanks fließende Öl stellt die Hauptmenge dar. Auch das routinemäßige Wässern der Tankschiffe und das Balastwasser tragen in großem Maße zur Ölverschmutzung der Riffe bei. Heute weiß man, daß Korallenriffe sehr unterschiedlich auf Ölverschmutzungen reagieren, teilweise scheint die Lebensgemeinschaft Riff sehr gut mit dem Öl fertig zu werden. Dennoch sollten wir den Riffen nicht zuviel zumuten und alles tun, um Ölkatastrophen zu verhindern. Ein ,,zu-viel" trifft auch für den Tourismus zu. Nach wie vor locken die Korallenriffe Jahr für Jahr Millionen von Touristen an. Hiervon ist besonders das Große Barriereriff in Australien bedroht. Hierhin fahren jedes Jahr rund 2 Millionen Urlauber - Tendenz weiter steigend. Waren es bisher hauptsächlich die leicht zugänglichen Riffe des Großen Barriereriffs, so sind es heute fast alle Bereiche, die mit schnellen Booten erreichbar sind. Nach wie vor beliebt sind die Riffwanderungen, die während Niedrigwasser durchgeführt werden. So finden sich heute auf Green Island nur noch an den äußeren Riffhängen lebende Korallen. Der Rest ist zertreten, abgebrochen - tot. Auch unsachgemäßes Schnorcheln und Tauchen stellen hohe Belastungen für die Riffe dar. Von der direkten Entnahme von Tieren, die zuhause dann im Wohnzimmerschrank einstauben, ganz zu schweigen. Ungelöst sind im Zusammenhang mit dem Tourismus die Entsorgung des anfallenden Mülls und die Probleme der Abwasserreinigung bzw. des daraus resultierenden Nährstoffeintrags in das Riff.
Welch teilweise verheerenden Auswirkungen eine Zunahme von Nährstoffen in Riffen haben, zeigen jüngste Ergebnisse aus dem Roten Meer, im Golf von Eilat. Hier führte eine Nährstoffzunahme (Eutrophierung) zu einem gewaltigen Algenwachstum. Diese Algen legten sich auf die Korallen und große Teile der Korallen starben. Interessant an dieser Untersuchung sind nun die Antworten auf die Fragen nach der Ursache und dem Ausmaß. Die beschriebene Algenblüte trat im Frühjahr 1993 auf. Im Juni 1991 kam es zu einem gewaltigen Ausbruch des Vulkan Pinatubo auf den Philipinnen. Wie hängen nun diese beiden Ereignisse zusammen? Der gewaltige Vulkanausbruch führte zu einer Abkühlung der Wasseroberfläche durch verringerte Sonneneinstrahlung. Das nunmehr kältere Wasser sank auf Grund seiner höheren Dichte in die Tiefe und induzierte eine Zirkulation bis in Tiefen von 850 Metern. Dadurch wurde nährstoffreiches Tiefenwasser nach oben transportiert, welches den Algen wiederum als Nahrungsquelle diente und zu Algenblüte führte. An bestimmten Stellen, wie zum Beispiel im Naturpark blieben diese heftigen Algenblüten aus. Hier im völlig intakten Riffabschnitt sind es wohl die Pflanzenfressenden Fische, die die Algenpopulation so stark dezimieren können, um Schlimmeres zu verhindern. Auch hieraus läßt sich erkennen, daß intakte Riffsysteme durchaus belastbar sind. Doch wieviel kann ihnen zugemutet werden?

Die Korallenriffe gehören zu den artenreichsten und gleichzeitig zu den bedrohtesten Ökosystemen der Erde. Diese (unabwendbare?) Schicksal teilen sie mit einigen anderen Lebensräumen. Nach durchaus ernst zu nehmenden Schätzungen der Evolutionsbiologen sterben zur Zeit auf der Erde stündlich drei Arten aus, d.h. 27.000 pro Jahr! Die Anzahl neu entstehender Arten ist dagegen verschwindend gering: Man rechnet bei geschätzten zehn Millionen Arten (nur etwa 1,5 Millionen davon sind bis jetzt wissenschaftlich beschrieben!!) pro Million existierender Arten mit nur einer neuen Art pro Jahr. Unter ungestörten Bedingungen wohlgemerkt! Sehr artenreiche Lebensräume mit vielen Nischen für Spezialisten sind für diese Entstehung neuer Arten nahezu prädestiniert. Mit geschätzten 400.000 Arten (bisher beschrieben: 60.000) zählen Korallenriffe ebenso wie die Regenwälder zu diesen ,,hot spots" der Artenentwicklung. Neben Vergangenheit und Gegenwart zerstört der Mensch mit einem solchen Ökosystem also auch die Zukunft, nämlich die wichtigen Geburtsstätten neuer Arten, die Wiege der Vielfalt auf diesem Planeten!



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