aus:"FUTURA, 4/1996, Boehringer Ingelheim Fonds"


Baumeister der Riffe: Nesseltiere (Cnidaria)

Aufgrund ihres Körperbaus gehören die Nesseltiere (Cnidaria) gemeinsam mit den Rippenquallen (Ctenophora) zu den Hohltieren (Coelenterata). Zu den überwiegend im Meer lebenden Nesseltieren gehören 4 Klassen sehr unterschiedlich aussehender Organismen:
Alle Vertreter dieses Stammes lassen sich auf eine gemeinsame Stammform zurückführen: den Polypen. In aller Regel mit der Fußscheibe festsitzend, besitzt dieser schlauch- oder sackförmige Organismus am oberen Ende eine als Mund und After fungierende Körperöffnung, die von Tentakeln umgeben ist. Der Aufbau ist denkbar einfach: der Schlauch besteht aus zwei Epithelien, nämlich Außen- und Innenhaut (Ekto- und Entoderm), verbunden werden beide durch eine Zwischenschicht (Mesogloea). Die Epithelien sind für die Körperfunktionen wie etwa Atmung und Exkretion verantwortlich, zudem enthalten sie Muskel- , Nessel- und netzartig verknüpfte Nervenzellen. Das Körperinnere besteht aus einem durch Längsfalten (Septen) gegliederten Hohlraum, dem Gastralraum. Von diesem Aufbau abgeleitet ist die Organisation der Meduse (Qualle): sie ist im Grunde genommen ein auf den Kopf gestellter, freischwimmender Polyp. Fußscheibe und Körper werden zur Oberseite (Exumbrella) des Schirms (Umbrella), das Mundfeld wird zur Unterseite (Subumbrella). Die Mesogloea ist hier viel mächtiger ausgebildet, da sie formgebende und Funktionen übernimmt. Der Rand des Schirms trägt Tentakeln und Sinnesorgane. Die Körperöffnung liegt auf einem Stiel (Manubrium), der in den Gastralraum führt. Die Meduse schwimmt durch Rückstoß.
Nesseltiere pflanzen sich geschlechtlich und ungeschlechtlich fort. Bei den Blumentieren (Anthozoa) übernimmt der Polyp beide Formen, hier gibt es keine Medusengeneration. Die meisten Anthozoen sind Zwitter, nur wenige sind getrenntgeschlechtlich. Bei den übrigen drei Klassen gibt es einen sogenannten Generationswechsel (Metagenese): der Polyp schnürt ungeschlechtlich Medusen (Quallen) ab, die hier Träger der Keimzellen und somit zuständig für die geschlechtliche Fortpflanzung sind. Es entsteht eine Larve (Planula), die zu einem neuen Polypen heranwächst. Während Larven und Medusen immer frei bewegliche Einzelindividuen sind, bilden Polypen infolge der ungeschlechtlichen Vermehrung oft Kolonien, wobei sich die Tochterorganismen nicht vollständig trennen. Solche Kolonien bieten die Möglichkeit der Arbeitsteilung durch verschieden gestaltete Polypen. Viele Polypen sind auch noch zu begrenzter Fortbewegung fähig.

Abb. 2: Die Aktivität der Korallenpolypen (links ausgestreckt; rechts eingezogen) kann das Erscheinungsbild einer Koralle stark verändern.

Abb. 3: Halterfisch (Zanclus cornutus) vor Geweihkorallen (Acropora sp.)



Nesselzellen
Vom Ernährungstyp her sind Nesseltiere Tentakelfänger und Schlinger. Die an den Nesselzellen hängende Beute wird von den Tentakeln zur Körperöffnung geführt. Der gesamte Polyp ist sehr dehnbar, so daß auch unverhältnismäßig große Beute am Stück verschlungen werden kann. Drüsenzellen sondern die zur Verdauung notwendigen Enzyme ab. Spezialisierte Nährmuskelzellen in der Innenhaut übernehmen die Aufnahme der Nährstoffe aus dem Beutebrei, größere Partikel werden in Nahrungsvakuolen in den Zellen verdaut. Unverdauliche Reste werden durch die Körperöffnung ausgeschieden.
Namensgebend für den ganzen Tierstamm sind die Nesselzellen (Nematocyten). Sie liegen vorwiegend in der Außenhaut, dort besonders zahlreich in den Hauptorganen des Beuteerwerbs, den Tentakeln. In den Nesselzellen werden Nesselkapseln (Cnidocysten) gebildet. Diese Kapseln sind Abkömmlinge des zu den Zellorganellen gehörenden Golgi-Apparates, und zählen zu den kompliziertesten Sekretionsprodukten im Tierreich. Abhängig von der Funktion unterscheidet man drei Typen von Nesselkapseln: Durchschlagskapseln (Penetranten), Klebkapseln (Glutinanten) und Wickelkapseln (Volventen). Von diesen drei Grundmodellen gibt es viele verschiedene Ausführungen. Bei den meisten Nesseltieren finden sich mehrere Nesselkapseltypen - ihre Gesamtheit (Cnidom) wird zur Artbestimmung mitherangezogen.
Am Beispiel einer Durchschlagskapsel soll die Funktion einer Nesselzelle dargestellt werden: jede Nesselzelle ist mit einem sensorischen Stift (Cnidocil) ausgestattet, der chemisch oder mechanisch gereizt werden kann. Die Kapsel selbst besteht aus einer starken äußeren und einer zarten inneren Wand. Erstere bildet einen absprengbaren Deckel, letztere ist als teilweise eingerollter Schlauch ins Innere der Kapsel eingestülpt. Der Schlauch gliedert sich in den mit Stiletten bewehrten Schaft und den Faden. Nach Reizung des Cnidocils explodiert die Kapsel: der Innendruck steigt an, und mit einer Beschleunigung von 400 000 m/s2 werden die Stilette ausgefahren und durchschlagen die Haut der Beute (zum Vergleich: die Beschleunigung in der bemannten Raumfahrt beträgt 60 - 100 m/s2 und 500 000 m/s2 bei einem Geschoss im Gewehrlauf). Dies ist eine der schnellsten Bewegungen im Tierreich! Dann ziehen sich die Stilette zurück und der Schlauch wird in das Beutetier ausgestülpt. Durch Poren im Schlauch tritt jetzt das Nesselgift aus und lähmt bzw. tötet die Beute. Eine explodierte Nesselkapsel hat ihre Funktion erfüllt und geht mit der Nesselzelle zugrunde. Um Abwehr und Nahrungserwerb sicherzustellen, müssen die Nesselzellen ständig neu gebildet werden.
Im Gegensatz zu den Durchschlagskapseln haben die Wickelkapseln keinen Schaft, der ausgeschleuderte Schlauch umwickelt die Beute. Klebkapseln sind ebenfalls ohne Schaft, der Schlauch scheidet hier ein klebriges Sekret ab.

Abb. 4: Putzerstationen sind feste Anlaufstellen im Riff: Hier läßt sich eine Gestreifte Süßlippe (Plectorhynchus orientalis) von einem kleinen Putzerlippfisch von Parasiten befreien.




Zoologisches Stichwort
Blumentiere (Anthozoa)
Blumentiere sind die ursprünglichste und mit über 6100 Species artenreichste Klasse der Nesseltiere. In diese Verwandtschaft gehören Blaue Korallen (Helioporida), Lederkorallen (Alcyonaria), Hornkorallen (Gorgonaria), Orgelkorallen (Stolonifera) und Seefedern (Pennatularia) als achtstrahlige Korallen (Octocorallia), sowie Zylinderrosen (Ceriantharia), Steinkorallen (Madreporaria), Seeanemonen (Actiniaria), Krustenanemonen (Zoantharia) und Dörnchenkorallen (Antipatharia) als sechsstrahlige Korallen (Hexacorallia).
Sie sind sekundär bilateralsymmetrisch gebaut und haben keinen Generationswechsel. Die Polypen leben solitär oder in Kolonien, die durch ungeschlechtliche Vermehrung entstehen. Einige Arten sind Zwitter, andere wiederum getrenntgeschlechtlich. Eier und Spermien werden ins Wasser abgegeben. Aus den befruchteten Eiern entwickeln sich zunächst freischwimmende Planula-Larven. Nach geraumer Zeit im Plankton setzen sie sich fest und entwickeln sich zu neuen Polypen. Einige Seeanemonen sind allerdings lebendgebärend: sie entlassen fertig ausdifferenzierte Polypen ins Wasser.
Achtstrahlige Korallen sind von beiden Gruppen die ursprünglichere Form. Sie sind einheitlich gebaut -- acht Tentakel (die stets gefiedert sind), acht Septen und somit auch acht Gastraltaschen -- und besitzen nur einen Typ Nesselkapseln. Sie sind getrenntgeschlechtlich und bilden stets Kolonien. Die Skelettentwicklung reicht von einfachen Kalknadeln (Skleriten) bis zum kompakten Achsenskelett.
Sechsstrahlige Korallen haben meist recht große Polypen mit sechs (oder einer Vielzahl von sechs) Tentakel, Septen und Gastraltaschen. In ihrer Embryonalentwicklung durchlaufen die meisten von ihnen aber noch ein Stadium mit acht Tentakeln und Septen. Octo- und Hexacorallia können symbiontische Algen besitzen.

Würfelquallen (Cubozoa)
Dies ist mit nicht mal 20 Arten die kleinste Klasse der Nesseltiere, doch in diese Verwandtschaft gehören die giftigsten Meerestiere der Welt, die Seewespen (Chironex fleckeri und Chiropsalmus quadrigatus).
Ihr Generationswechsel ist noch sehr ursprünglich: der radiärsymmetrische Polyp wandelt sich in einer Metamorphose vollständig in eine Meduse um. Da die Polypen sehr klein sind und versteckt leben, waren sie bis in jüngste Zeit unbekannt. Die Embryonalentwicklung ist bis heute noch nicht vollständig geklärt. Der Schirm der Medusen ist tatsächlich in etwa würfelförmig, die Tentakel sitzen nur an den vier Ecken. Zudem besitzen sie Becher- und hochentwickelte Linsenaugen. Sie reagieren positiv auf Licht und meiden dunkle Schatten. Würfelquallen sind schnelle und gewandte Schwimmer, die durch irisblendenartige Verengung des Raumes unter dem Schirm den ausgestoßenen Wasserstrahl und somit die Schwimmrichtung gut lenken können.

Schirmquallen (Scyphozoa)
Die großen Vertreter der Schirmquallen, die leicht Durchmesser bis zu 1 m erreichen (bei einigen Arten sogar bis zu 2 m, deren Tentakel sind dann 30 m lang!), zählen zu den auffälligsten Nesseltieren. Sie besitzen am Schirmrand eine kräftige Ringmuskulatur, die für die Kontraktion beim Schwimmen sorgt. Der Schirmrand selbst ist durch Einkerbungen in Randlappen gegliedert. Durch asymmetrisches Schlagen der Randlappen sind Richtungs-änderungen möglich, wirken aber unbeholfen. Sinnesorgane zwischen den Randlappen (Rhopalien) enthalten meist einfache Augen, Chemorezeptoren und Mineraleinlagerungen, die als Schweresinnesorgan (Statolith). Schirmquallen sind fast alle getrenntgeschlechtlich. Die Spermatozoen werden ins freie Wasser abgegeben, die Befruchtung der Eizellen erfolgt im Inneren der weiblichen Qualle, dort erfolgt auch die Brutpflege, d.h. die befruchteten Eizellen verbleiben bis zur fertigen Planula-Larve in der erwachsenen Meduse. Die Larve wandelt sich nach einer kurzen pelagischen Phase zum kleinen, unscheinbaren Polypen um, der dann wiederum durch Querteilung (Strobilation) viele Medusen abschnürt oder sich durch Knospung unge-schlechtlich vermehrt. Diese Polypen wandeln sich nie vollständig in Medusen um, es bleibt stets ein Restkörper übrig, der sich wieder vollständig regeneriert. Bei einigen marinen Formen entwickelt sich die Planula-Larve direkt unter Umgehung des Polypenstadiums zur Meduse. Viele Quallen bilden mit anderen Tieren faszinierende Lebensgemeinschaften. Häufig besitzen sie symbiontische Algen, aber manche bevorzugen Fische oder Krebse als Partner. Trotz ihrer Nesselzellen haben auch Quallen Freßfeinde: Seeschildkröten sowie einige Schnecken und Fische wissen eine solche Mahlzeit wohl zu schätzen.

Hydrozoen (Hydrozoa)
Die am höchsten entwickelten Nesseltiere sind die Hydrozoen. Ihre Polypen sind sehr klein und im Bau schon wieder vereinfacht (ihnen fehlen z.B. die Gastralsepten), dafür aber sind sie durch die Aufgabenteilung in den Kolonien ungeheuer vielgestaltig. Hydrozoenkolonien werden meist von einer schützenden chitinösen Hülle (Periderm) umgeben, die kalkbildenden Feuerkorallen zählen gar mit zu den Riffbildnern. Die Stockbildung erfolgt durch Knospung neuer Polypen, wobei diese miteinander in Verbindung bleiben. Im Gegensatz zu den Scyphozoa sind die Medusen der Hydrozoen sehr klein, dafür aber schnelle, gewandte Schwimmer wie die Cubozoa. Aber nicht alle Hydrozoen bilden freischwimmende Medusen. In den Kolonien kann die Medusenanlage als sessile Gonophore am Stock verbleiben. Der Entwicklungszyklus vieler Hydrozoen war vielfach nicht vollständig bekannt (teilweise trifft das auch heute noch zu), daher haben Polyp und Meduse gelegentlich unterschiedliche wissenschaftliche Namen.
Ursprüngliche Hydrozoen haben noch einen vollständigen Generationswechsel. Es gibt aber auch abgeleitete Formen mit reduzierter oder fehlender Polypengeneration. Am höchsten differenziert ist die Gruppe der pelagischen Staatsquallen (Siphonophora). Dort sind die Polypen (Zoide) einer Kolonie so stark spezialisiert, daß sie fast wie Organe eines Körpers wirken. Freß- und Wehrpolypen, Gonophoren, Schwimmglocke (Nectophore) und Gasblase (Pneumatophore), Fangfäden und noch einige Spezialisten mehr bilden den Tierstock. In diese Gruppe gehört z.B. die gefürchtete Portugiesische Galeere.
Ein Vertreter der Hydrozoen zählt zu den ältesten bekannten Tierfossilien: Ediacaria wurde in Australien gefunden, stammt aus dem Präkambrium und ist 700 Millionen Jahre alt.

Abb. 5: Im Roten Meer findet man die typischen Saumriffe direkt an der Küste, wie hier bei Ras Muhamed. Über Wasser lassen sich hier auch fossile Riffe beobachten.

Korallenriffe - eine Symbiose von Algen und Korallen.
Riffbauende Korallen entwickeln sich durch wiederholte vegetative Teilungen des ursprünglichen Einzelpolypen zu Kolonien, bei denen es nicht immer ganz einfach ist zwischen standortbedingten Wuchsformen und unterschiedlichen Arten gleicher oder verwandter Gattungen zu unterscheiden. Jeder Korallenpolyp bewohnt im Korallenstock eine eigene, kelchförmige Vertiefung. Die Biomasse der lebenden Korallenpolypen beträgt weit unter 1% des Frischgewichtes einer Koralle. Von der Produktionskraft erreichen die Korallenriffe Werte wie der Tropische Regenwald oder "Hochleistungspflanzen".
Diese Produktionsleistung kann nur durch die Symbiose mit einzelligen Algen ereicht werden. Diese 8 bis 10 mm messenden Algen (Gymnodinium microadriaticum = Symbiodinium microadriaticum) sind charakteristisch gelbbraun bis kräftig braun gefärbt und lagern sich in die Mesoglea ein (Endosymbiose). Etwa 1 Million Algenzellen pro cm2 wurden in Polypen gezählt. Auch in zahlreichen Schwämmen, Plattwürmern und Mollusken kommen sie vor. Die zur Kalkbildung notwendigen Ausgangsstoffe, Calcium-Ionen und Kohlendioxid, stehen im Meerwasser reichlich zur Verfügung, treten aber nur in geringem Maße zu Calciumkarbonat zusammen. Wird jedoch aus diesem Reaktionsgefüge CO2 entfernt, wird das Gleichgewicht so verändert, daß erheblich mehr Kalk für die Skelettbildung anfällt. Korallen (hermatypische!), die mit Zooxanthellen in Symbiose leben, haben nun in diesen eine solche Pumpe, die CO2 absaugt und selbst für die Photosynthese braucht. Die Bedeutung dieser Symbiose liegt also in einer hochgradigen Beschleunigung der Kalkbildung. (Das Optimum für diese Kalksynthese liegt bei 25 - 31°C! siehe Verbreitung der Korallenriffe!)
Im Durchschnitt beträgt das Höhenwachstum eines Riffs 0,5 - 3 cm pro Jahr, verzweigte Korallen vergößern die Reichweite ihrer Äste um bis zu 80%, Blöcke ihren Durchmesser bis zu 10% im Jahr. Für 50 Meter Riffhöhe werden heute 1800 Jahre Bauzeit angenommen!
Während der Nacht sinkt die Kalkbildungsrate stark ab, da bei Dunkelheit keine Photosynthese abläuft und demnach auch kein CO2 benötigt wird.
Die Algen nutzen dabei die Stoffwechselprodukte der Korallen wie CO2, Stickstoff- und Phosphatverbindungen (Mangelstoffe des Meeres!) und produzieren Sauerstoff. Dieser wird von der Koralle veratmet, die noch weitere Stoffe wie Zucker und Aminosäuren von den Algen erhält.





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