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[Lesetipps für den Frühling]

Kamin, Kaffee und Special-K

Für Morgenmuffel und Langschläfer entpuppt sich in diesem Buch eine ganz neue Welt: Ein Mann steht jeden Morgen um vier Uhr auf, zündet das Kaminfeuer mit einem Streichholz an, trinkt Kaffee und isst einen Apfel zum Frühstück. Die ruhigen Stunden zwischen vier und sechs Uhr morgens wenn alle noch schlafen sind für ihn mit einem besonderen Zauber behaftet: In dieser nebelgrauen Frühe sind die Gedanken nicht mit dem heranbrechenden Tag behaftet und schweifen frei zwischen Vergangenheit, Zukunft, Erinnerung und Traum umher. Für die Dauer einer Streichholzschachtel wird der Leser zum morgendlichen Begleiter durch eine Midlife Crisis und nimmt an seinen Erinnerungen, Hoffnungen und Anekdoten Teil, die er am Kamin aufschreibt. Der Mann hat eigentlich alles: Frau, Kinder, Job und eine Hausente namens Greta – aber was kann jetzt noch kommen, was ist eigentlich gewesen?
Eiserne Regel seines frühmorgendlichen Rituals: das elektrische Licht muss aus bleiben, denn nur so sind die erwachenden Sinne sensibilisiert für das Besondere im Banalen. Wenn seine Fingerkuppen die Kaffeemaschine und die Streichhölzer ertasten, verwandelt sich das Potpourri unter den Fingern in Special-K-Frühstücksflocken, der alte Kaffeefilter zum extra-weichen Taco.

Das Leben ist keine Pralinenschachtel, sondern vielmehr wie ein Stapel Briefumschläge: Durch die Papierüberlappung in der Mitte eines Kuverts kann man im Stapel einen harten Kern fühlen – etwas, was nicht Teil des einzelnen Umschlags (oder Tages) ist, sondern erst in der Wiederholung der Einzelteile entsteht. Und so entpuppt sich in der Wiederholung des Rituals der Bedeutungskern des Lebens. Und wer das erkannt hat, kann sich wieder beruhigt schlafen legen.

GW

Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer, Rowohlt Verlag, 16,90 Euro, März 2004, 128 Seiten


Ein Autor, der keiner sein wollte

Italo Svevo (1861-1923) gilt unter Kennern als einer der berühmtesten Erzähler der modernen Weltliteratur. Grund genug, einem seiner Werke näher auf den Zahn zu fühlen. Als Einführung dient zu diesem Zweck: „Die Kunst, sich das Rauchen nicht abzugewöhnen“, ein Sammelband voll schöner teils makaberer Kurzgeschichten und Fabeln. Viele der in dieser einmaligen Sonderausgabe abgedruckten Geschichten sind Erstübersetzungen und undatiert, so dass eine exakte zeitliche Zuordnung unmöglich ist. Italo Svevo hieß mit bürgerlichem Namen Ettore Schmitz und wurde in Triest, dem Schauplatz vieler seiner Geschichten, geboren. In der reichen Handelsstadt arbeitete er als Kaufmann. Er entwickelte sich vom einfachen Bankangestellten zum erfolgreichen Unternehmer. Seine ersten Bücher waren nicht vom Erfolg gekrönt. Modedichter waren damals weitaus beliebter.

Svevo schämte sich nach eigenen Angaben für seine literarischen Wagnisse, stellten sie doch eine Gefahr für seinen seriösen Ruf als Geschäftsmann dar. Dennoch ließ er nie vom Schreiben ab. In seiner Dualität liegt das Geheimnis seines Erfolges. Das Spannende an Svevos Werken ist die durchgängige Psychoanalyse seiner Akteure mal aus der Entfernung, dann wieder durch ihre eigenen Münder vorgetragen. Deren Schwächen und Stärken sind stets im Kampf miteinander. Svevo eröffnet mit den dunklen Seiten, den Gedanken und Fantasien eine Welt, die an Aktualität nicht verloren hat. So entstehen aus Schilderungen der drögen Triester Geschäftswelt, dem Zwist Svevos mit seiner Frau oder der Erkenntnis zu altern spannende Konflikte der miteinander und mit sich selbst ringenden Akteure. Eifersucht, Scham und Selbsterkenntnis aber auch Mut, Frivolität und Selbstbetrug werden von Svevo immer wieder vorgeführt als das was sie sind – ein unleugbarer Teil der menschlichen Existenz.

FH


Italo Svevo: Die Kunst, sich das Rauchen nicht abzugewöhnen, Sonderausgabe 10 Euro, Rowohlt Verlag, ISBN 3-499-23394-0



Der technologische Mythos

Diese Buch ist ein Parforceritt durch die Geschichte unserer technomanischen Kultur. Von einer der frühesten Kulturtechniken, der Schrift, über die Entdeckung der Elektrizität und des Magnetismus bis hin zum Hype des alles verschlingenden Internets spannt Erik Davies seinen Bogen. Die These lautet: Unsere ach so aufgeklärte Zivilisation sitzt einer Täuschung auf. Nicht nüchterne Logik und Aufklärung bestimmen unser Denken, sondern Versatzstücke von Aberglauben, Alchemie und Okkultismus. Das elektronische Zeitalter schafft Ratlosigkeit und Leere, die zu füllen sich die Manager der Unterhaltungsindustrie alle erdenkliche Mühe geben. Dem scheinbar dumpfen Mittelalter mit seiner katholischen Inquisition folgt nun eine verwässerte Gnosis, in der die Technik an die Stelle der unsterblichen Seele tritt. Information ersetzt den Geist, superschnelle Datenautobahnen den Stein der Weisen. Die Wissenschaft redet von Physik und meint Metaphysik. Von Siliziumchips zu Silikonimplantaten ist es nur ein kurzer Weg. Die größten Umsätze mit der Mikroelektronik erzielen die Unterhaltungsindustrie und die Telefonfirmen. Wozu UMTS? Um noch mehr Fun zu haben, um noch mehr Halbsätze ins Handy zu stoßen.
Das Buch ist erfrischend nüchtern und es schafft, was den meisten Publikationen über die modernen Trends in der globalen Gesellschaft fehlt: Es denkt und spricht tatsächlich vernetzt, sprengt die Grenzen der Disziplinen, spinnt das feine Muster aus technologischen und psychologischen Fäden aus, das uns trägt und zugleich gefangen hält. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. Oder, um es mit Terence McKenna zu sagen: „In the grand style of H. G. Wells, TechGnosis is an apocalyptic synopsis of this century´s technological climax.“

HS


Erik Davies: TechnGnosis, Harmony Books (Randomhouse), New York 1998, ISBN 0-517-70415-3


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