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UKBF-Forscher helfen, Suizide zu vermeiden
Depressionen sind meist behandelbar

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UKBF-Forscher helfen, Suizide zu vermeiden


Depressionen sind meist behandelbar

Während einerseits immer wieder - ‘mal zu recht, ‘mal übertrieben - von "Psychopharmaka-Missbrauch" die Rede ist, wissen Fachleute andererseits, dass in Deutschland viele Patienten mit Depressionen und Neigung zur Selbsttötung (Suizidalität) unzureichend oder überhaupt nicht behandelt werden. Auch in Ärztekreisen herrscht zum Teil "therapeutischer Nihilismus". Dabei können Depressionen in den meisten Fällen durchaus sowohl mittels spezifisch antidepressiver Psychotherapie als auch medikamentös gut behandelt werden.

Wesentlich auf die Initiative der "Forschergruppe Klinische Psychopharmakologie" in der Psychiatrischen Klinik am Fachbereich Humanmedizin der Freien Universität Berlin (Leitung: Prof. Hanfried Helmchen) zurück gehen Studien sowie Bemühungen zur Bildung von Versorgungsstrukturen, die der Verbesserung der Behandlung der wohl am meisten unterschätzten Krankheit dienen. Dazu gehört zum Beispiel die "Berliner Lithium-Katamnese" mit der wissenschaftlichen Untersuchung der antisuizidalen Wirkung von Medikamenten, die Lithiumsalze enthalten - Substanzen, die sich bei der Behandlung manisch-depressiver sowie krankhaft hyper-aggressiver Zustände bewährt haben.

"Leider", so sagt der Leiter der UKBF-Forschergruppe, Prof. Bruno Müller Oerlinghausen, "werden sogar in der Fachwelt negative Behauptungen über Lithiumsalze verbreitet. Dahinter stehen mitunter sachfremde Interessen, etwa, um die Verschreibung anderer, wissenschaftlich teils schlechter untersuchter und teurerer Psychopharmaka zu fördern".

Müller-Oerlinghausen ist jüngst in das Leitungsgremium des vom Bundesforschungsministerium unterstützten "MedNet"-Projektes "Depression/Suizidalität" gewählt worden. Die "Lithium-Interventionsstudie bei suizidalen Patienten" ist nur ein Teil dieses umfassenden Projektes.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMFT) hatte einen Wettbewerb mit dem Ziel ausgeschrieben, die Bildung überregionaler Netzwerke für spezifische Krankheiten ("MedNets") anzuregen. Zu den Gewinnern gehört das Projekt "Depression/Suizidalität", das von Professor Ulrich Hegerl (Psychiatrische Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, früher in der Berliner Forschergruppe tätig) koordiniert wird. Einer der wichtigsten Aspekte ist hierbei die dauerhafte Kooperation zwischen niedergelassenen Ärzten und den beteiligten Forschungseinrichtungen.

Neuere Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstreichen die Bedeutung depressiver Erkrankungen, die häufig chronisch verlaufen beziehungsweise im Leben der betroffenen Menschen episodenhaft immer wieder auftreten. Wie vielleicht keine andere Erkrankung beeinträchtigen Depressionen fundamental die Lebensqualität. Die WHO hat deshalb Aktionsprogramme zur besseren Prävention und Therapie von Depressionen auf nationaler Ebene gefordert. Suizidalität und Depressionen überlappen sich; es ist leicht nachzuvollziehen, dass die (vorzeitige) Sterblichkeit bei Depressiven deutlich erhöht ist. Offiziell nahmen sich 1996 in Deutschland 12.000 Menschen das Leben, wobei die Dunkelziffer hoch ist (Problematik der korrekten Todesursachen-Feststellung). Hinzu kommen ernsthafte Suizidversuche, die um das 10-15fache über den vollzogenen Selbsttötungen liegen. Besonders traurig ist die Tatsache, dass dies viele junge Menschen einschließt. In der Altersgruppe der 15-35jährigen steht der Suizid nach den Unfällen an zweiter Stelle der Todesursachen.

Häufig werden die wirksamen Behandlungsverfahren nicht eingesetzt, da Depressionen übersehen oder in ihrer Schwere unterschätzt und das Suizidrisiko nicht erkannt werden; die Ergebnisse der modernen Forschung, so Müller-Oerlinghausen, werden oft nicht in wirksame Behandlungsstrategien umgesetzt. So muss man leider sagen: Die meisten Suizide (bei schwer Depressiven sind das im Lauf der Krankheit 15 Prozent!) sowie Suizidversuche erfolgen auf der Grundlage von Depressionen und wären eigentlich vermeidbar. Folgerichtig hat sich das "MedNet Depressionen/Suizidalität" zum Ziel gesetzt,

  • das "diagnostische Defizit" vor allem durch Kooperation mit Hausärzten abzubauen, denn in mehr als 50 Prozent wird die Erkrankung nicht erkannt;
  • das "therapeutische Defizit" ebenso zu vermindern: Bei abermals über der Hälfte der richtig diagnostizierten Depressionen werden unzureichende Behandlungsstrategien eingesetzt;
  • offene Forschungsfragen zu beantworten.

In Skandinavien hat eine Studie gezeigt, dass die Suizidrate allein durch Schulung von Allgemeinärzten innerhalb von drei Jahren um mehr als die Hälfte gesenkt werden kann. "Es ist überhaupt nicht einzusehen", sagt Bruno Müller-Oerlinghausen, "dass wir nicht mindestens dieses Ziel auch erreichen". Das MedNet-Projekt vernetzt führende Forschungseinrichtungen und Universitätskliniken wie die Psychiatrische Klinik des UKBF mit anderen Krankenhäusern, niedergelassenen Ärzten, der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (deren Vorsitzender Prof. Müller-Oerlinghausen ist), Krankenkassen, Selbsthilfegruppen und anderen Einrichtungen.

Das Vorhaben ist in sechs Teilprojekte unterteilt. Als Beispiel sei das "Teilprojekt Suizidalität" erwähnt, das auf die international beachteten Ergebnisse der Forschergruppe Klinische Psychopharmakologie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin der FU Berlin zurückgeht. In der Praxis soll dabei unter anderem geprüft werden, wie durch ein Bündel von Maßnahmen einschließlich hotlines zur Beratung von Ärzten bei Diagnose und Therapie Suizide verhütet werden können. Auch die oben erwähnte Untersuchung des suizidverhindernden Effekts einer rechtzeitigen Gabe von Lithiumsalzen gehört hierzu. Andere Teilprojekte befassen sich mit der Behandlung leichter depressiver Syndrome, dem Qualitätsmanagement in der Depressionstherapie sowie pharmakologischen und molekulargenetischen Aspekten. Und schließlich geht es auch darum, welche Bedingungen bei einzelnen Patienten zur Chronifizierung der Krankheit führen oder warum manche Menschen auf bestimmte Behandlungsverfahren nicht ansprechen.

JW/MWM

Ansprechpartner:
Prof. Dr.med. Bruno Müller-Oerlinghausen
UKBF / FB Humanmedizin der FU, Psychiatrische Klinik und Poliklinik, Klinische Psychopharmakologie
Eschenallee 3, 14050 Berlin
Tel.: (030) 8445-8648/-8649, Fax: -8797,
E-Mail: bmoe@zedat.fu-berlin.de
Internet: http://www.mednet-depression.de