Präsentation einer methodenpluralistischen Disziplin

Was ist Botanik?


Die Anfänge der Botanik reichen weit in die vorwissenschaftliche Zeit des Ackerbaus zurück. "Botanik" leitet sich vom altgriechischen botáne: Kraut, speziell Futterkraut, ab. Und schon früh erkannte und nutzte der wirtschaftende Mensch die sehr kennzeichnende große vegetative Reproduktionskraft der Pflanzen. "Pflanze", lateinisch planta, (engl. plant)bezeichnet im alten Land- und Gartenbau das in den Erdboden Gepflanzte, den von der Mutterpflanze abgetrennten Steckling oder Setzling.
Der Begriff botaniké (Pflanzenkunde) taucht zum ersten Mal bei Dioskurides auf, einem griechischen Arzt und Pharmakologen, der um 60 n.u.Z. ein umfangreiches Werk verfaßte, das den gesamten Arzneimittelschatz der Antike festhielt. Es enthält die Beschreibung von ungefähr 600 Pflanzen und deren Wirkung. Die "Materia medica" blieb bis in die Neuzeit hinein das maßgebliche Handbuch der abendländischen Medizin und neben den Schriften des Römers Plinius während anderthalb Jahrtausenden die Hauptquelle für botanische Autoren. Insbesondere auch für die "Kräuterdoktoren" und "Väter der Botanik" Fuchs, Brunfels, Bock u.a., mit denen "eine neue Epoche der Naturwissenschaft beginnt", und bei denen "die ersten Anfänge der jetzigen Botanik zu finden" sind (Julius Sachs). Bis zu ihnen und mit ihnen ist Botanik in erster Linie Pharmakologie.
Sie bewegt sich, aber sie ist eine Pflanze: die Kieselalge
Später schreibt Carl von Linné in seiner Philosophia botanica (1751): "Botanica est scientia naturalis, quae vegetabilium cognitionem tradit" (Die Botanik ist die Naturwissenschaft, die sich mit der Kenntnis der Pflanzen beschäftigt).Unter "Pflanzen" verstand man damals allerdings nur die grünen Pflanzen; die meist farblosen Bakterien und die Pilze wurden nur sehr zögernd in die Botanik mit eingeschlossen, in der nunmehr bald experimentell, bald beschreibend-registrierend, und zum Teil fachübergreifend mit der Zoologie, organismische Interaktionen (z.B. in der Blütenökologie) und die Evolution zur Diversität pflanzlicher Organismen und Lebensgemeinschaften Forschungsschwerpunkte sind.
"Habt Ehrfurcht vor der Pflanze. Alles lebt durch sie" steht - etwas religiös verbrämt - auf dem Tor des Botanischen Gartens am Königin-Luise-Platz. Dieser Zweizeiler macht auf die Besonderheit der Pflanzen im Ökosystem Erde aufmerksam: Die grünen Pflanzen stehen am Anfang jeder Nahrungskette, alles sonstige Leben, organisiert in Tieren, Bakterien, Pilzen und dem Menschen, ist direkt oder indirekt auf sie angewiesen.
Als die Biologie (Begriff zuerst um etwa 1800) mit dem Erforschen der Gemeinsamkeiten im Leben (Bios) von Pflanzen und Tieren begann, war sie schnell sehr erfolgreich, gipfelnd in den Erkenntnissen der Zellbiologie, der Genetik und in unserem Jahrhundert besondes in der Molekularbiologie. Sie prägen zum großen Teil unser heutiges Weltbild. Aber daraus zu folgern, heute müsse die Molekularbiologie generell führend sein und in diesem Sinne der Terminus "botany" durch "plant biology" ersetzt werden, heißt ihre Erklärungskraft überschätzen.
Die Organismenwelt zeigt auf verschiedenen Entwicklungsniveaus - individuell wie stammesgeschichtlich - hervorstechende Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten, die eigene Untersuchungsmethoden erfordern. So lassen sich zum Beispiel Bau und Gestalt - Anatomie, Histologie und Morphologie - sowie Lebensäußerungen und -tätigkeiten, - die Physiologie - der Pflanzen und Pilze nicht vollständig molekulargenetisch oder molekularchemisch erklären. Ebensowenig ist dies möglich in der Taxonomie und Systematik, in der Pflanzengeographie und in der Evolutionsforschung. Schon in der Vergangenheit widerstand die Botanik zahlreichen reduktionistischen Versuchungen und präsentierte sich als eine methodenpluralistische Disziplin.
Das Lehrbuch der Botanik: der Strasburger 
(Foto: Ingo Haas)

Untypische Ernährung: Die Kobrapflanze "frißt" auch kleine Tiere (Foto: Klaus Korpel)
Die in der Literatur oft zu findende Sentenz "Nichts macht Sinn in der Biologie ohne die Evolutionstheorie" zielt vorrangig auf die zentrale Aussage von der Abstammung aller Organismen aus einer einzigen, urtümlichen Lebensform. Damit enthält die Frage "Was ist (moderne) Botanik?" eine weitere Frage "Was ist ihr Gegenstand?" Im Verlauf der Evolution entwickelten sich die ersten Pflanzen und Tiere nach internem Zusammenschluß primitiver Lebenseinheiten (Endosymbiontentheorie) zunächst als echt einzellige Lebewesen (Protisten) zunehmend stark divergierend zu makroskopischen Körpern. Anders als die Tiere können die typischen Pflanzen und Pilze nicht selbständig einen Ortswechsel vornehmen. Sie haben keine Zentralorgane und sind zu keiner Zeit im Wachstum abgeschlossen ("erwachsen"), sondern wenig individualisiert und größtmöglich offen zum umgebenden Medium. Sie wachsen ständig weiter - bis an die spezifischen Belastungsgrenzen bautechnischer Konstruktion. Im Zusammenhang damit steht auch das unterschiedliche Ausdauern der Sexualorgane. Diese werden bei den Pflanzen im Lebenszyklus fortlaufend neu gebildet und produzieren nur einmal Sexualzellen; bei den Tieren dagegen sind sie beständig über viele Jahre und (fast) zeitlebens funktionstüchtig. Das gilt auch für fleischfressende Pflanzen und tierfangende Pilze mit ihrer untypisch zusätzlichen Ernährung.
Hinzu kommen noch signifikante Unterschiede der Zelltypen und Zellteilung, zugespitzt in dem Satz, "Nicht die Zellen bilden die Pflanzen, sondern die Pflanzen bilden die Zellen. Aber hier und in anderen Fällen herrscht in der Botanik noch kein consensus omnium und ist wohl auch nicht zu erwarten - zu unterschiedlich sind die forschungsleitenden Ideen und Prämissen.
 

Hildemar Scholz ist apl. Prof. für Botanik (a.D.) und war bis 1993 am BGBM

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