In der "Transformationsforschung"gehören Krieg und Gewalt zu den Kernthemen

Der politologische Blick


Anläßlich des 50. Jahrestages der Vereinten Nationen zog 1995 Generalsekretär Boutros-Ghali Bilanz. Heute sei das Hauptproblem "Konflikt innerhalb der Staaten", "in denen es oft zu ungewöhnlichen Gewalttaten und Grausamkeiten kommt." Ähnlich war der Präsident des einflußreichen US-amerikanischen Council on Foreign Relations kurz zuvor bei der Frage, was denn mit Ende des Kalten Krieges "die fortwährende Herausforderung der neuen Welt" im Kern sei, zu der Feststellung gelangt: "Das Kernproblem bleiben Kriege nationalen Zerfalls, ein beständiger Rückgriff auf recht unbürgerliche Bürgerkriege, sich in ihre Bestandteile auflösende zerbrechliche, irgendwie halbwegs funktionierende Nationalstaaten."

Das heutige Somalia stellt den Endpunkt dieser Entwicklung dar. Eine Regierung für dieses Gemeinwesen existiert nicht mehr. Der Sitz des Staates Somalia bei den Vereinten Nationen ist leer. Ob die in Dayton erreichte Kompromißlösung zur Gestaltung der staa tlichen Nachfolge Jugoslawiens Bestand haben wird, bleibt sehr offen. Experten rechnen nach dem Abzug der Amerikaner im nächsten Jahr wieder mit Krieg auf dem Balkan, gerüstet wird dafür rundherum eifrig. Und niemand vermag weiter mit Bestimmtheit zu sagen, ob der Zerfall der vormaligen Sowjetunion an seinem Endpunkt angelangt ist, und ob neue Staatswesen vom Typus der Djnestr-Republik in gewaltförmigen Auseinandersetzungen entstehen.

Solche Horrorlisten lassen sich neben den Transformationsgesellschaften im vormaligen sowjetischen Machtbereich auch in den vormaligen europäischen Kolonialgebieten erstellen. Bürgerkriege in Afrika haben systematisch den Blick dafür geschärft, daß die Ent kolonialisierung so, wie sie seinerzeit angelegt wurde, gesellschaftlich gescheitert ist, nicht nur in Somalia. Es enstanden kopflastige Zentralstaaten, die äußerlich die Attribute von Staatlichkeit aufweisen, wie diese das Völkerrecht verlangt. In der Wah rnehmung ihrer Aufgaben verdient eine Vielzahl von Regierungen dieser Staaten allerdings nicht diesen Namen - es findet keine zureichende Regulation statt, die Gewaltenteilung erfolgt allenfalls äußerlich oder halbherzig, der Schutz von Bürgern und ihren Grundrechten wird nicht garantiert.

In solchen Staaten wird zudem Krieg nicht gemäß der Haager Landkriegsordnung geführt. "Zivilisten sind die Hauptopfer und häufig auch die Hauptziele", beklagt der UN-Generalsekretär in seiner Bilanz. Krieg ist nicht wirksam eingehegt, sondern erweist sich gerade in Europa in der Brutalisierung als eskalatorisch offen. Die einschlägige Forschung hat beispielsweise festgestellt, daß die befohlene Vergewaltigung von Frauen als Mittel der Kampfführung neuartig ist. Gewiß hat es Vergewaltigungen in Kriegen immer gegeben - aber der Einsatz dieser "Waffe", die Bestrafung von Soldaten, die ihre Beteiligung an solchen "Einsätzen" verweigern, ist historisch neu.

Die Friedens- und Konfliktforschung sucht nach zureichenden Erklärungsmustern für diese widerlichen Kriege. Der Ausfall an Staatlichkeit im modernen Sinne beunruhigt sie mit am stärksten. In dem an der FU geförderten Forschungsgebietsschwerpunkt "Transform ationsforschung" gehört das Thema Militär und Gewalt zu den Kernthemen.

In den Krisenregionen erfolgt Regulation - funktioniert der Staat nicht in gewohnter Weise - über Surrogate, und zu denen gehört der Krieg.

Ulrich Albrecht

Ulrich Albrecht, Fachbereich Politische Wissenschaft, ist Professor am Institut für Internationale Politik und Regionalstudien und dessen Geschäftsführender Direktor


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