Verwähtn und vernachlässigt: Auch hochbegabte Kinder brauchen Förderung

"Das Lernen ist nie gelernt worden"


Lange Zeit ist in Deutschland die Begabtenförderung vernachlässigt worden. In den letzten Jahren jedoch ist sie von führenden Politikern als wichtige gesellschaftliche Aufgabe erfaßt worden, da sich ein rohstoffarmes Land in Zeiten des globalen Wettbewerbs nur durch zukunftsweisende Technologien behaupten kann, die das Vorhandensein eines kreativen Potentials von Wissenschaftlern und Technikern voraussetzen.

Begabtenförderung ist jedoch auch ein pädagogisches Problem. Intelligenz stellt einen stabilen Faktor innerhalb der Persönlichkeit dar. Doch erst, wenn Motivation und Kreativität als ebenbürtige Faktoren wirken, entsteht hohe Leistungsfähigkeit, Hochbegabu ng. Wer unstillbare Wißbegierde, hohes Beharrungsvermögen bei der Weiterführung angefangener Aufgaben, die Fähigkeit zum Entdecken und Erfinden origineller Neuerungen entwickeln soll, bedarf im Stadium des Heranwachsens einer positiven Reaktion aus dem soz ialen Umfeld, sei es die Familie, die Schule oder der Freundeskreis. Je jünger intellektuell hochbegabte Kinder sind, desto schwieriger ist es für sie, ein positives Echo zu erwecken. Die blutjunge Sportlerin ruft ungeteilte Bewunderung hervor, der kindlic he Pianist findet wenigstens noch im kleinen Kreis von Experten Anerkennung. Ein kleines Kind, das im Supermarkt die Schilder vorliest oder die Hausnummern addiert, während es die Straße hinuntergeht, erweckt Befremden. Intellektuelle Frühreife und Leistun gsfähigkeit gelten als unkindlich, werden abgelehnt. Die Schule kann zu einem Leidensweg werden. Elementare Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen wurden häufig schon selbständig vor Schulbeginn erworben. Einerseits wird nun angepaßtes, aufmerk sames Verhalten verlangt, andererseits stellt keine der Aufgaben eine echte Herausforderung dar. Aus dauernder Unterforderung können schnell Schulunlust und Verhaltensauffälligkeiten erwachsen. Vor allem aber wird niemals ein zuverlässiges Arbeitsverhalten aufgebaut. Den meisten Schulstoff nehmen besonders Begabte mühelos auf. Stoßen sie dennoch einmal auf Schwierigkeiten, resignieren sie sofort. Einerseits verwöhnt, andererseits vernachlässigt, erreichen sie vielleicht noch einen qualifizierenden Schulabsc hluß, versagen jedoch bei wachsenden Anforderungen, z.B. im Studium. Das Lernen ist niemals gelernt worden. Gelegentlich kann private Initiative dort wirken, wo sich der Staat allzu sehr zurückhält.

Die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V., hervorgegangen aus einer Elterninitiative und inzwischen bundesweit tätig, organisiert als eines ihrer Forschungsvorhaben ein Kooperationsprojekt mit der Freien Universität und der Humboldt-Universit ät, das vom Bund seit sechs Jahren gefördert wird. Schülerinnen und Schüler der Klassen 10 und 11 nehmen ein zweijähriges Mathematikstudium auf, das aus Vorlesungen, Tutorien, einem Seminar und einer Intensivwoche besteht. Ausgewählte Bereiche der Mathemat ik werden von Universitätsprofessoren auf dem Niveau des Vordiploms vermittelt. Das Projekt läuft z.Z. im dritten Durchgang und hat schon jetzt, vor der Publikation des Abschlußberichtes, große Aufmerksamkeit auf sich gezogen und Anerkennung gefunden. Das Andreas-Gymnasium in Lichtenberg wird nächstes Jahr mit Mathematikern der Humboldt-Universität kooperieren. Selbstverständlich wollen die Mathematiker für ihre Wissenschaft werben, doch auch wer später eine ganz andere Studienrichtung als Mathematik einsch lägt, hat nachweislich von dieser Förderung profitiert. Selbstbestimmtes Lernen, das sich nicht an den Minimalstandards der Schule orientiert, Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens, die zu Selbsttätigkeit befähigen, und intensive Kooperation mit gleic h Interessierten und Befähigten prägen das gesamte künftige Lernverhalten. Die FU engagiert sich in der Begabtenförderung ein weiteres Mal, indem der von der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport eingerichtete Modellversuch "Individualisierung des gymnasialen Bildungsganges", vulgo: "D-Zug-Klassen", von einer Gruppe von Erziehungs- und Unterrichtswissenschaftlern und Fachdidaktikern sozialwissenschaftlich begleitet wird. Die Förderung von Begabten muß lange vor Studienbeginn einsetzen. Es ist sinnvo ll, wenn Impulse dazu von der Universität ausgehen.

Karin Kohtz

Karin Kohtz ist Professorin am Institut für Grundschul- und Integrationspädagogik des Fachbereichs Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sportwissenschaft.


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