So selbstverständlich der Umgang mit dem Begriff, so unklar ist seine Bedeutung

Die andere Welt: Kindheit


Während der Vater auf den Beginn der Fußballübertragung wartet, spielt der sechsjährige Sohn sein neuestes Videospiel, die etwas ältere Tochter surft im Internet, und die Mutter nimmt den Zweitfernseher mit einer soap opera in Beschlag. Jeder in seinem Zim mer, für sich allein, oder schon vereinsamt? Ein vielleicht übertriebenes, aber keineswegs unmögliches Szenario modernen Familienlebens. Wie idyllisch nimmt sich dagegen das Bild der Großfamilie vergangener Zeiten vor unserem geistigen Auge aus: die Großel tern, Eltern und eine für heutige Verhältnisse recht große Anzahl von Kindern in friedlichem Zusammenleben unter einem Dach, ohne Konflikte und auch ohne Sorgen.

Die historische Sozialforschung und die historische Demographie haben inzwischen gezeigt, daß diese Vorstellung mit den tatsächlichen Verhältnissen in vergangenen Zeiten nur wenig zu tun hat. Aufgrund der geringen Lebenserwartung waren Familien, in denen Großeltern lebten, recht selten anzutreffen. Die Möglichkeit, zu heiraten und Kinder zu bekommen, war zudem in der Regel an bestimmte Voraussetzungen gebunden, z.B. die Gründung eines Meisterbetriebs im Handwerk oder die Übernahme der (elterlichen) Vollste lle in der Landwirtschaft, so daß das Heiratsalter vergleichsweise hoch (etwa Mitte bis Ende 20) war. Stieffamilien waren dagegen häufig anzutreffen, die Sterblichkeit innerhalb der Elterngeneration war hoch, die innerhalb der Kindergeneration noch höher. Bei landwirtschafltlichen Vollstellen und handwerklichen Betrieben gehörte zudem das Gesinde (Lehrjungen, Gesellen, Knechte oder Mägde) mit zum Haushalt und unterstand der Rechtsgewalt des Hausvaters, war also in diesem Sinne ein Teil der 'Haushaltsfamilie '.

Was wissen wir nun über Kinder und Kindheit in früheren Jahrhunderten? In der sozialwissenschaftlichen Forschung und Diskussion stehen sich zwei Auffassungen gegenüber. Einerseits wird die Geschichte der Kindheit als eine Verfallsgeschichte gesehen: Im An schluß an Philippe Ari's (1975) wird betont, daß Kindheit im Mittelalter noch nicht als eine eigenständige Lebensphase angesehen wurde, in der die nachwachsende Generation erst auf den Eintritt ins Erwachsenenleben vorbereitet werden mußte. Kinder wurden n ach dieser Auffassung in die alltäglichen Lebenszusammenhänge der Erwachsenen eingebunden und hatten die Möglichkeit, sich relativ frei zu bewegen, mit Erwachsenen und Kindern umzugehen und sich dadurch auf eine naturwüchsige Art und Weise in die Welt der Erwachsenen zu integrieren. Die 'Konstruktion' von Kindheit im 17./18. Jahrhundert bedeutete nicht nur die Trennung und Hierarchisierung der Erwachsenen- und der Kinderwelt, sondern durch die Übertragung erzieherischer Aufgaben auf öffentliche Einrichtunge n auch das Aufkommen von Repression und sozialer Ausgliederung.

Diametral entgegengesetzt ist dieser Auffassung die fortschrittsgeschichtliche These des 'psychohistorischen' Ansatzes, vor allem begründet und vertreten durch Lloyd deMause (1977). Hier wird die Entwicklung der Kindheit in einem weitgefaßten, evolutionsth eoretischen Ansatz als die Geschichte einer Wende vom Schlechteren zum Besseren gesehen. Kindheit in der Antike gilt dabei als Kindheit in der Phase des Kindesmordes: Kinder als Opfergaben für die Götter und die gezielte Tötung nicht nur von behinderten Ki ndern waren aus dieser Perspektive vorherrschende Verhaltensmuster. Aus diesen für Kinder katastrophalen Zuständen entwickelt sich nur langsam, über viele Jahrhunderte hinweg schließlich die Phase der Unterstützung, die unsere heutige Zeit seit etwa 1950 c harakterisiert. Erst in dieser Phase ist ein empathisches Eltern-Kind-Verhältnis voll entwickelt, während in den früheren Perioden das Eltern-Kind-Verhältnis durch negative Projektionen (z.B. Schreikinder als vom Teufel besessene Kinder) oder durch Umkeh rbeziehungen (Kinder befriedigen elementare Bedürfnisse ihrer Eltern, z.B. Liebe, Nahrung) charakterisiert sind.

In jüngster Zeit populär geworden ist neben diesen Positionen die von Postman (1983) vertretene These vom Verschwinden der Kindheit. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist dabei die Medienrevolution, die durch die Erfindung der Buchdruckerkunst ausgelöst w urde. Hierdurch trennte sich erstmals Erwachsenenwelt und Kinderwelt, denn Kinder können noch nicht lesen. "Indem nun die Kinder aus der Erwachsenenwelt vertrieben wurden, mußte eine andere Welt entworfen werden, die sie bewohnen konnten. Diese andere Welt nannte man Kindheit" (Postman). Genau diese Unterscheidung wird nun allerdings in der Fernsehgesellschaft unserer Tage wieder aufgehoben, denn um fernzusehen, muß man nicht lesen können. Die für Kinder geheimnisvolle Welt der Erwachsenen wird durch die Bi ldersprache erschlossen. Es gibt keine Geheimnisse der Erwachsenenwelt mehr.

Eineinhalb Jahrzehnte nach Postman läßt sich dieser Gedanke weiterspinnen. In der multimedial vernetzten Computergesellschaft wird die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben die Bedeutung haben, die heute etwa der Kenntnis des Altgriechischen zukommt. Ein Spe zialwissen weniger Experten ohne weitreichende Relevanz. Mit voice control läßt sich der Computer steuern, gesprochene Nachrichten werden über die Netze an Empfänger in aller Welt geschickt und im Bedarfsfall automatisch übersetzt. Wo so etwas antiquiertes wie ein Brief noch nötig ist, wird er in den Computer diktiert und automatisch versandt.

Ob sich damit allerdings das von Postman verkündete Schicksal der Kindheit vollendet, darf bezweifelt werden. Denn der mediale Zugang zu den 'Schätzen' der Erwachsenenwelt ist zwar eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für das Verschwinden von Kindheit. Denken und Verstehen sind die beiden Kategorien, die Kindern auch in der Medienwelt von morgen das Leben der Erwachsenen als ein Rätsel erscheinen lassen.

Holger Weßels

Grafik2Holger Weßsels ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialpädagogik, Bereich Konlleinkinderpädagogik, am Fachbereich Erziehungswissenschaft.


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