Wenn niemand weiß, was morgen kommt

Ethnische Gruppen, Seilschaften und Klientelsystemersetzen den Rechtsstaat


"Erst nennst Du Dich einen echten Usbeken, nun sagst Du wir Tadschiken?" Die neugierige Frage des Ethnologen Georg Elwert löste bei seinem Gegenüber, einem tadschikischen Usbeken aus Buchara, Empörung aus. natürlich gehöre er zu beiden Gruppen gleichzeitig , das sei doch normal, sagte der Mann verärgert. Der FU-Professor war offenbar in ein Fettnäpfchen getreten. Aber er hatte dafür auch eine klare Antwort bekommen: Das Kästchen-Denken ist falsch - Menschen gehören meistens zu mehreren Gruppen gleichzeitig u nd sie wissen das im allgemeinen auch. Die Schlesier gehörten zum Beispiel wie die polnische Bevölkerung zur katholischen Kirche, während ihre Deutschsprachigkeit sie mit Österreich und Deutschland verband. In ruhigen Zeiten ist das kein Problem. Aber in K risensituationen müssen sich Menschen oft für eine der Gruppen entscheiden.

Die sozialen Strukturen in Volksgruppen spiegeln sich am ehesten in "kreuzperspektivischen" Untersuchungen wider, einer Methode, mit der auch Elwert arbeitet: Unterschiedliche Gesprächspartner und verschiedene Erhebungsverfahren vermitteln eine Vielfalt von Perspektiven, deren Kontraste und Widersprüche zu analysieren sind. Am lehrreichsten seien die Fettnäpfchen, in die man trete, und die Ungehörigkeiten, die man als Fremder immer wieder unwissentlich begehe, erklärt Elwert. Unausgesprochene Normen oder Se lbstverständlichkeiten kommen dadurch erst zur Sprache. Die FU-Ethnologen besuchen einzelne Volksgruppen in Usbekistan, der Türkei oder in Westafrika in ihren Dörfern und Siedlungen und leben dort längere Zeit. Der Aufenthalt, der bis zu einem Jahr dauern kann, wird mehrmals unterbrochen, damit der Beobachter sich nicht eingewöhnt und damit blind für viele Eigenheiten wird, die nur dem Fremden auffallen.

Wo die FU-Ethnologen auch forschen, finden sie überraschend viele Gemeinsamkeiten zwischen sehr verschiedenen Kulturen. Vor allem wenn es keinen "anonymen" und verläßlichen Rechtsstaat gibt, zersplittert die Gesellschaft in viele Untergruppen. Die einzelnen Gruppen berufen sich auf eine uralte Tradition, auf die richtige Auslegung einer Religion oder auf eine gemeinsame Sprache als verbindendes Element. Angeblich gab es sie schon immer und ihre Identität ist unveränderlich.

Vergangenheit nach Bedarf

Aber gerade das stimmt nicht, sagen Elwert und seine Mitarbeiter. Sie haben viele Beispiele gefunden, in denen eine Gruppe ihr Gesicht und ihre Geschichte geändert hat. So haben die Tamil Tigers in Sri Lanka als Trotzkistische Bewegung begonnen und kämpfen heute unter einem extrem nationalistischen Anstrich für einen eigenen Tamilenstaat auf der Insel. Die Baath-Partei von Saddam Hussein im Irak hat sich erst vor wenigen Jahren von einer rein weltlichen zu einer Partei mit religiösem, islamischen Gepräge ge wandelt, um Unterstützung von anderen islamischen Staaten zu bekommen. Eine beachtliche Veränderung erfuhr auch die Gruppe der Aleviten in der Türkei: Sie haben unter Atatürk ihre Traditionen und religiösen Gebräuche aufgegeben und sich vorwiegend in sozia listischen Organisationen engagiert. In der jüngeren Vergangenheit nahmen jedoch religiöse und islamische Strömungen in der türkischen Gesellschaft stark zu und unter diesem Druck entwickelten die Aleviten wieder eine eigene religiöse Identität. Da jedoch viele Quellen in der Zwischenzeit verlorengegangen sind, behalfen sie sich zum Teil auch mit Anleihen bei anderen Traditionen sowie Erfindungsgeist, um ein kohärentes Bild ihrer echten Tradition und Geschichte zusammenzusetzen. Die Leichtigkeit mit der sic h Identitäten verschieben lassen, verblüfft allerdings.

Wie sich "Wir-Gruppen" bilden oder Staaten in "ethnische Einheiten" zersplittern, ist eigentlich ein Thema für Politologen. Aber mit der Lektüre von Tageszeitungen und Gesetzestexten werde die Realität eines Landes nicht erfaßt, meint Elwert. Das Bild ist von Verzerrungen gezeichnet, oft sogar massiv gefälscht. Die Sicht der Frauen kommt zum Beispiel darin nicht vor; ihr Alltag ist meist so beschwerlich, daß ihnen für Politik und Selbstdarstellung weniger Zeit bleibt als den Männern. Deswegen versuchen die Wissenschaftler die Lebenswirklichkeit von einzelnen Gemeinschaften möglichst unmittelbar zu erfahren - sowohl durch das gesprochene Wort als auch aus eigener Anschauung. In den ersten drei Wochen erarbeiten sie sich einen Grundwortschatz der lokalen Spra che von etwa 300 Wörtern und ganzen Sätzen mit einer Methode, die Lernen im Kontext heißt und die einst von Missionaren entwickelt wurde. Parallel versuchen sie so gut es geht, am Dorfleben teilzunehmen, wobei sie alle Beobachtungen genau notieren.

Lohnender Perspektivenwechsel

Dabei nehmen die FU-Ethnologen bei ihren Besuchen auch grundsätzlich an allen Alltagsarbeiten teil, an der Frauenarbeit wie der Männerarbeit. Das stößt oft auf Widerstand bei den Gastgebern, reizt sie mindestens zum Lachen, lohnt sich aber wegen des Perspektivenwechsels sehr: Im westafrikanischen Benin haben auch heute nur reiche Frauen eine Zisterne im Hof, alle anderen müssen Wasser aus den öffentlichen Brunnen holen. Das Zisternenwasser schmeckt zwar schlecht und zieht Malaria-Mücken an, dennoch ist eine eigene Zisterne für alle Frauen ein Hauptziel und bei der Heirat versuchen sie durchzusetzen, daß der Bräutigam das Blechdach besorgt. Ein Fall von Statusdenken und Nachahmungstrieb des westlichen Fortschritts? Ein Student hat nun erfahren, warum die Frauen so erpicht auf eine eigene Zisterne sind. Unter dem Gespött der Kinder lud er sich einen Krug auf den Kopf und holte Wasser aus dem Brunnen. Am Abend bekam er starke Kopfschmerzen, und als er dies den Frauen sagte, bekam er die Antwort: "Wir haben das auch jeden Abend, es ist einfach eine furchtbar schwere Arbeit". Dieser Aspekt war den Europäern bis dahin entgangen; viele dachten, Afrikanerinnen mache das Tragen schwerer Lasten nichts aus. Die Kopfschmerzen der Frauen waren einfach nicht der Rede wert.

Die Menschen sind meist sehr gastfreundlich und an den Besuchern aus dem 'Elfenbeinturm' interessiert. Dahinter verbirgt sich auch manchmal die Hoffnung, den Gast als Sprachrohr in der westlichen reichen Welt nutzen zu können. Das sind die Klippen der Feld forschung, vor denen sich die Ethnologen hüten müssen, denn vor allem die Elite zeigt sich gewandt im Umgang mit Ausländern. Daß diese Eliten ihre Interessen gerne als die allgemeinen Bedürfnisse ihrer Länder darstellen, erfahren Elwert und seine sozialant hropologische Kollegin, die FU-Professorin Ute Luig auch im Wissenschaftlichen Beirat des Entwicklungshilfeministeriums. Um sich gerade nicht zum "Historiker der Macht" zu machen, achten die Wissenschaftler bewußt darauf, auch mit den weniger Gebildeten zu reden und auch die Menschen kennenzulernen, die am Rand der Gesellschaft stehen.

"Knüppeldamm in den Morast der Zukunft"

Ethnische oder nationale "Konversionen" geschehen nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Wichtiger noch ist die Kapazität einer Gruppe oder eines Staates, Konflikte zu lösen. "Wo nach verbindlichen Normen Recht gesprochen wird, statt Willkür und Gewalt Ra um zu geben oder Entscheidungen zu blockieren, dort suchen Menschen ihre Heimat", formuliert Elwert. Auf dies stieß er wieder in Usbekistan, wo große Angst vor einem aufkommenden Islamismus herrscht, obwohl dort der Islam kaum bekannt ist - aber gerade der Islam erscheint vielen Menschen als Verbindung von Moral und Gerechtigkeit, als Alternative zu Willkür und Gewalt. Was fehlende Sicherheit im Alltag bedeutet, kann man in Mitteleuropa heute gar nicht mehr ermessen. In vielen Ländern Osteuropas und Afrikas , wo der Staat oder kriminelle Vereinigungen Willkürherrschaft ausüben, verbringt der einzelne einen Hauptteil seiner Zeit mit dem Knüpfen eigener Solidaritätsbeziehungen, um wenigstens ein Minimum an Planungssicherheit zu haben, Zeit, die für produktive A rbeit verloren ist. Es entstehen Selbsthilfestrukturen, Seilschaften und Klientelsysteme. Die Führer, die sich in chaotischen, komplizierten Situationen durchsetzen, zeichnen sich durch Charisma und ein simples Weltbild aus; sie schwärmen von einer glorrei chen Vergangenheit, versprechen rosige Zeiten und legen so einen "Knüppeldamm in den Morast der Zukunft". Als Gruppenklebstoff reicht dann manchmal auch schon der Haß auf "die Anderen". In ganz verschiedenen "ethnischen" Konflikten finden sich solche gemei nsamen Muster, wie Elwerts Feldstudien zeigen. Die Mechanismen des Völkermords lassen sich nachvollziehen. "Eine traurige Arbeit", meint Elwert inzwischen. Denn obwohl Experten wie er die Krise in Ruanda und nun in Zaire/Demokratische Republik Kongo schon vor einigen Jahren vorhergesehen haben, führen ihre Berichte und Warnungen erst jetzt zu einer Revision in der Entwicklungshilfe, aber noch lange nicht in der Außenpolitik.

Antonia Rötger


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