Jeder fünfte Jugendliche zwischen 15 und 25 ist außen vor

Jugendrevolte ist Bürgerpflicht


Eine Jugendrevolte ist eigentlich überfällig... Vordergründig stehen die Zeichen auf Sturm.

Jugend wird marktwirtschaftlich umschwätzt, und dem größten Teil der Jugend geht es nach eigenen Aussagen recht gut, gleichzeitig aber ist noch niemals eine Jugend so lautlos und schamlos in ihren beruflich-persönlichen Perspektiven b etrogen worden wie die derzeitige Kinder- und Jugendgeneration.

Zur Zeit sind rund 220.000 junge Menschen ohne Lehrstelle; der Anteil der weiblichen Auszubildenden sinkt dramatisch (40 Prozent).

Hinzu kommen jene "Verschiebebahnhofsjugendlichen" von ca. 80.000 bis 130.000, die nach erfolgloser Ausbildungsplatzsuche im Schulbereich "parken", andere "Warteschleifen" nutzen, kurzfristige Jobs annehmen und als "ande rweitig Verbliebene" oder "Abgebroch ene" sich zu scheinbar statistischen Restgrößen addieren. Etwa 13 bis 15 Prozent eines Jahrgangs bleiben ohne abgeschlossene Berufsausbildung.

- 180.000 sind nach der betrieblichen Ausbildung arbeitslos gemeldet, demnächst wird es fast jeder vierte Jugendliche mit einer Ausbildung sein. Die Diskriminierung für Frauen in Männerberufen verstärkt sich: 43 Prozent werden nach ein er Ausbildung nicht ü bernommen.

- 470.000 der unter 25-jährigen sind arbeitslos.

- 550.000 Sozialhilfeempfänger gibt es in der Altersgruppe 18 bis 25; 80.000 Jugendliche gelten seriösen Schätzungen zufolge als obdachlos.

Insgesamt läßt unsere Gesellschaft 1,3 bis 1,5 Millionen junger Leute verkommen. Damit wird jeder fünfte Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren zeitweilig oder länger zum gesellschaftspolitischen Schrott erklärt.

Das Beunruhigendste an dieser fatalen Situation ist: Die Jugend nimmt sie einfach hin. Schüler demonstrieren, Jugendhäuser müpfen bei Kürzungen auf, aber alles lieb - leise - harmlos. Ein handfester gesellschaftspolitischer Konflikt is t ausgeblieben, die b etrogene Jugend kein Thema.

Eine neue Jugenddebatte ist überfällig. Eine, die die Jugend nicht exotisiert mit Modethemen wie "Jugend und Gewalt", "Jugend und Drogen" und "Jugend und Rechtsextremismus" und nur ablenkt von dem, was zur Diskussio n eigentlich ansteht: Wie eine lebbare Ar beits- und Lebenssituation für Jugendliche ermöglichen? Die Massenmedien inszenieren und dramatisieren die Faszinosa, Musik- und Kleiderstile, Chaostage und Love Parade - und vermitteln, daß Geld das universelle Zugangsmittel ist. Die Juge nd wird marktwirt schaftlich umschwätzt, und wenn es zu schlimm wird, beugen sich die so verständnisvollen Erwachsenen über sie, ohne ihre eigene Mittäterschaft zu thematisieren. Sie wattieren mit Barem, und die Jugendlichen setzen ihre zu 98,2 Prozent auf Vollerwerb fixier ten Väter nicht unter solidarischen Umverteilungsdruck. Von wegen Generationenkonflikt.

Das Alarmierendste: Die marktwirtschaftlichen Geschäftsgrundlagen werden von den jungen Leuten - zumindest nach außen hin - akzeptiert. Wer erst zu einer guten Ausbildung ermutigt wird und dann mit Vehemenz alle Türen vor der Nase zugeknal lt bekommt, könnt e nachdenklich werden, wütend oder aufmüpfig. Stattdessen gilt eine pragmatische Überlebensperspektive, in der Geld zum Schmiermittel eigener Wünsche wird. Wer arbeitet, hatÕs, wer nicht arbeitet, versucht es sich auf seine Art zu besorgen.

Was fehlt, ist eine Einübung in Verweigerung, Provokation und Protest mit der berechtigten Forderung nach Teilhabe in dieser Gesellschaft. Eine Jugendrevolte systematisch zu schüren, ist Jugend- und Bürgerpflicht.

Dringend und ernsthaft erwogen werden sollten unterschiedliche Formen von Regelverletzungen und zivilem Ungehorsam. Dabei sind die Politikbereiche zu bestimmen, in denen der Druck besonders groß ist - Schulen, betriebliche und überbetriebliche Ausbildungsstätten sowie die Hochschulen gehören dazu. Arbeitsniederlegungen für eine solidarische Arbeitsumverteilung, Professoren-Streiks für bessere Studienbedingungen, Besetzungen von Jugendeinrichtungen, die von Schließung bedroht sind, könnten solche Aktionsformen sein. Jugendliche könnten zum Boykott von Produkten und Dienstleistungen aufrufen, wenn keine Arbeitsumverteilung stattfindet und keine Ausbildungsplätze angeboten werden. Kauft nicht bei Kaufhaus Meier, die tun nichts für Jugendliche, oder: Nehmt keine Dienstleistungen dieses Wohlfahrtsverbandes, die stellen keine jungen Leute ein! Aber auch positiv ließe sich marktwirtschaftlich-jugendlich argumentieren.

Drei Maßnahmen könnten für Jugendliche einen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt "von unten" schaffen:

- Ein Lehrstellenangebot, das zumindest 30 % über dem statistischen Angebots-/ Nachfrageausgleich liegt, der zwangsweise öffentlich zu finanzieren ist trotz aller Haushaltsprobleme.

- Eine solidarische Arbeitsumverteilung im öffentlichen und halböffentlichen Dienst, die Arbeitszeitverkürzung, Gehaltskürzungen und neue Arbeitsplätze auf einen Nenner bringt.

- Arbeitsplätze auf Kredit, die unkonventionelle Beschäftigung jenseits von Markt und Staat schaffen können.

Aber gute Programme reichen nicht - es kommt sehr darauf an, gute Vorstellungen mit Konflikten zu verbinden. Es sieht so aus, als ob sich in Berlin im nächsten halben Jahr einiges rühren könnte: Stadt-Innenstadt-Aktionen für menschliche Räume in der Stadt, ein Stadtforum für jugendliche Interessenlagen, ein Produkt- und Dienstleistungsboykott für diejenigen, die junge Leute nicht ausbilden. Alle Erfahrung lehrt: Jugendliche lassen sich auf Dauer nicht ausgrenzen. Der Frust könnte schon bald in plurale Formen zivilen Ungehorsams umschlagen.

Peter Grottian

Peter Grottian ist Professor am Institut für ökonomische Analyse politischer Systeme und Politikfeldanalysen im Fachbereich Politische Wissenschaft


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